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Achtsamkeit & Meditation

Über Papst Johannes XXIII. (Papst von 1958 bis 1963) erzählt man folgende Anekdote: Als er gerade Papst geworden war, konnte er kaum schlafen. Die Bürde der Verantwortung, all das, was er tun wollte, lastete schwer auf ihm. Er stand unter Dauerstress.

Da erschien ihm eines Nachts Gott im Traum und sagte: „Giovanni, nimm dich nicht so wichtig!“ Der Papst befolgte den Ratschlag des Herrn und konnte von da an bestens schlafen.

Kann man Dauerstress auflösen?

Die Auflösung des Stresses durch den Papst verwirklicht eine Grundeinsicht Buddhas: anatta, was man mit Seelenlosigkeit übersetzen kann. Anatta meint aber auch und vor allem, dass es im ganzen Universum nichts und niemanden gibt, der Herrscher oder Herrscherin über eine Situation ist: Kein Gott, kein Mensch, kein sonstiges Wesen hat die Macht, seinen Willen voll durchzusetzen. Eigentlich ist das eine Alltagserfahrung: All das Gewinsel und all die Schmeicheleien der Gläubigen gegenüber ihrem Gott nützen nichts. Die Welt bleibt weiterhin ein ungerechtes Jammertal. Obwohl wir oft Kontrollwahn, Perfektionismus und Allmachtsfantasien verfallen, fallen wir immer wieder auf die Nase. Wir nehmen uns und unsere irdischen und himmlischen Götter viel zu wichtig. Wie oft staunen wir, dass sich die Erde bewegte, als wir noch nicht da waren. Und weil wir uns im Kleinen und im Großen so wichtig nehmen, setzen wir uns selbst unter Stress. Da hilft es, sich zu sagen: sabbe dhammā anattā – alle Wirklichkeit ist herrenlos. Auch wir sind nicht Herrscher und Herrscherinnen über uns selbst. Auch wir sind eine Funktion von aus unserem Organismus aufsteigenden, durch unsere Vergangenheit mitbedingten Faktoren. Es gibt keine autonome Seele, die im Hintergrund sitzt, zuschaut und die Verantwortung für das ganze Schlamassel trägt.

Der große Physiker und Philosoph Ernst Mach (1838-1916) ist aufgrund achtsamer Beobachtung seiner Bewusstseinsvorgänge zur Erkenntnis des anatta gelangt. Er erfasste auch den Zusammenhang zwischen ‚Nicht-Ich’ und ‚freierer’ Lebenseinstellung:

„Das Ich ist unrettbar. Teils diese Einsicht, teils die Furcht vor derselben führen zu den absonderlichen pessimistischen und optimistischen, religiösen, asketischen und philosophischen Verkehrtheiten. Der einfachen Wahrheit, welche sich aus der psychologischen Analyse ergibt, wird man sich auf die Dauer nicht verschließen können. Man wird dann auf das Ich, welches schon während des individuellen Lebens vielfach variiert, ja beim Schlaf und bei Versunkenheit in eine Anschauung, in einen Gedanken, gerade in den glücklichsten Augenblicken, teilweise oder ganz fehlen kann, nicht mehr den hohen Wert legen. Man wird dann auf individuelle Unsterblichkeit gern verzichten und nicht auf das Nebensächliche mehr Wert legen als auf die Hauptsache. Man wird hierdurch zu einer freieren und verklärten Lebensauffassung gelangen, welche Missachtung des fremden Ich und Überschätzung des eigenen ausschließt. Das ethische Ideal, welches sich auf dieselbe gründet, wird gleich weit entfernt sein vom Asketen, welches für diesen nicht haltbar ist, und zugleich mit seinem Untergang erlischt, wie von jenem des Nietzsche'schen frechen ‚Übermenschen’, welches die Mitmenschen nicht dulden können, und nicht dulden werden.“ (Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, 1900.)Dauerstress

Damit sind wir bei einer zweiten Grundeinsicht Buddhas, die zur Entstressung beitragen kann. Buddha dachte in erdgeschichtlichen, ja kosmischen Zeiträumen. Er war überzeugt, dass er unzählige Geburten durchlaufen musste, um zu dem zu werden, was er war. Gewiss, die Vorstellungen von der Abfolge der Geburten, wie wir sie z.B. in den Jātaka – den Erzählungen über frühere Geburten Gautamas – finden, sind zu naiv und simpel, als dass wir Menschen des 21. Jahrhunderts sie für wahr halten könnten. Unser Recycling läuft sicher anders ab, als es sich die alten Buddhisten vorgestellt haben. Ein bleibender Kern in diesen Vorstellungen ist aber, dass wir nicht unsere ganze Konzentration und Kraftanstrengung auf dieses unser gegenwärtiges Leben von vielleicht 100 Jahren richten. Es hilft sehr, Geduld mit uns selbst, unseren Lieben und unseren weniger Lieben zu entwickeln, wenn wir in erdgeschichtlichen oder kosmischen Dimensionen denken, wenn wir so zu leben versuchen, als ob wir unzählige Geburten – welcher Art auch immer – hinter uns hätten und ebenso mit noch unzähligen solcher Geburten rechnen müssten. Diese Geduld entbindet uns vom Stress des Alles oder Nichts. Wir lernen in einer solchen Lebenssicht auch, wie wichtig infinitesimal kleine Schritte sind. Wenn wir beachten, mit welcher Langsamkeit Gebirge wie der Himalaja hochgeschoben werden und wie riesig sie durch die Länge der Zeit werden, dann sehen wir, dass wir unser Leben nicht auf stressreiche und vergebliche Großtaten aufzubauen versuchen sollten, sondern auf die Kleinarbeit infinitesimal kleiner Entscheidungen, die sich summieren und multiplizieren. Dies ist allerdings nur möglich, wenn wir achtsam beobachten, wie sich aus kleinen Ursachen – kleinen Fehlentscheidungen – unaufhaltbare Großkatastrophen entwickeln. Wie wir also z.B. wutentbrannt explodieren, weil wir nicht bei den ersten Anzeichen, dass sich in uns Zorn aufbaut, das ‚Mini-Schalterchen’ richtig umgelegt haben.

Etwas Drittes, das uns der alte Buddhismus zur Vermeidung von Stress bietet, sind die Methoden der sogenannten Ruhigwerdemeditation. Buddha bezeichnete zwar seinen Heilsweg als den einzig möglichen Weg zur Beendigung des Leidens – egal, ob man diesem das Etikett ‚buddhistisch’ aufklebt oder nicht; die Methoden der Ruhigwerdemeditation sind dagegen vielfach und keine Spezialität des Buddhismus. In Deutschland dürfte es keine katholische oder evangelische Studentengemeinde geben, die nicht Kurse in irgendwelchen Formen östlicher Ruhigwerdemethoden anbietet.

Im Visuddhimagga, einer großartigen Gesamtdarstellung des buddhistischen Heilswegs durch Buddhaghosa (5. Jh. n. Chr.), findet man eine ausführliche Darlegung von 40 Methoden der Ruhigwerdemeditation. Der Visuddhimagga ist in einer deutschen Übersetzung des deutschen Mönchs Nyanatiloka (1878-1957) zugänglich. Allen Interessierten sei die Lektüre wärmstens empfohlen.

Die Aufzählung und Darstellung im Visuddhimagga ist keineswegs etwas Abgeschlossenes. Innerhalb und außerhalb der verschiedenen Formen des Buddhismus wurden zahlreiche weitere Methoden entwickelt. Beispielsweise nenne ich das autogene Training. All dies bringt vielen Menschen Erleichterung. In buddhistischen Kreisen birgt solches auch manchmal die Gefahr, dass man darüber das Kernanliegen Buddhas, die Beendigung des Leidens, vergisst. Aber dies ist ein anderes Problem.

Machen wir uns aber nichts vor: Wir sind nicht Herrscher/Herrscherinnen irgendeiner Situation. Unsere Umwelt wird uns noch oft genug unentweichlich unter Stress setzen. Wir können nur in meist infinitesimal kleinen Schritten (in Nano-Schritten) einzuüben versuchen, auf solche Situationen richtig zu reagieren. Wer, wie ich, keine Sorgen um die Erfüllung seiner elementaren Lebensbedürfnisse haben muss, kann leicht reden und schreiben.

Hier setzt eine weitere Grundeinsicht des alten Buddhismus an: Vorbedingung für alles Weitere ist ein sozialer Wohlfahrtsstaat, der allen die Voraussetzungen bietet, ein Leben ohne existenzielle Sorgen zu führen. Für die alten Buddhisten trug der König die Verantwortung für alles Böse in seinem Reich, das aus Armut und Not kam. In einer Demokratie tragen darum wir alle Mitverantwortung dafür, wenn die Zustände so sind, dass Menschen im Stress von Existenzangst und Not, von Ausbeutung am Arbeitsplatz usw. leben müssen.

Möge es doch allen so gehen wie den Studenten, über die Ilse Frapan 1899 schreiben konnte:

„Die Glücklichen, sagte ich mir, die sich bei aller Arbeit so munter ihrer Jugend freuen dürfen! Sie haben keine Eile, sie haben keine Anspannung aller Kräfte von Tag zu Tage, sie gehen behaglich im Schritt.“

Alois Payer

Alois Payer, geboren 1944, studierte und lehrte an verschiedenen Universitäten und Hochschulen Indologie, Buddhologie und Religionswissenschaften
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