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Leben

Und wenn man Sie nicht lässt, dann lassen Sie es halt.

Als ich vor sehr vielen Jahren, ich möchte gar nicht bekanntgeben, wie viele das schon sind, von Karl Marx gelesen habe und von seinen inneren Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaften, die zu allen möglichen Krisen führen, war mir noch nicht so recht klar, was eigentlich ein innerer Widerspruch sein soll und was es sonst noch für welche gibt: Äußere? Und wo ist der Unterschied zwischen inneren und äußeren?

Mittlerweile erkläre ich mir das so: Innere Widersprüche sind solche, die deshalb entstehen, weil die Spielregeln, die man befolgen soll, nicht zusammenpassen. So wie ein Würfelspiel, bei dem die erste Regel sagt, 6 gewinnt, und die zweite Regel sagt, 1 gewinnt. Bei so was gibt es Streit. Mit einem väterlichen Freund, der dann zur Gelassenheit rät, werden die Spieler wahrscheinlich nicht die ganz große Freude haben. Besser ist es, das Spiel zu ändern, soll heißen, die Regeln zu ändern. Beim Würfelspiel geht das. Bei den Spielregeln, die draußen in der großen weiten Welt herrschen, ist das nicht so einfach. Zu viele Menschen sind zu lange Zeit am Zusammenbasteln der Regeln beteiligt gewesen und wären jetzt ungehalten, wenn zwei oder drei Spieler die Regeln ändern wollten. Der Zwangscharakter dieser Regeln ist umso stärker, je größer die Anzahl der Menschen ist, für die sie gelten. Fügen wir uns also in das Unvermeidliche und bleiben wir gelassen. Es gibt genug Anleitungen in Buchform, die man kaufen kann und die uns verraten, wie man das macht. Nur leider: Einem 50-jährigen Industriearbeiter, dessen Job gerade wegrationalisiert wird, zur Gelassenheit zu raten, kann ganz schön zynisch sein. Verfasser von Anleitungen zum ‚leichten Umgang mit den Widrigkeiten des Lebens‘, wie zum Beispiel die Herren Patrick Lynen und Reiner Bergmann in ihrem Buch mit diesem Titel, mögen vielleicht einwenden, dass man gegen die großen globalen Entwicklungen ja sowieso nichts tun kann und es deshalb viel zielführender sei, ihre Bücher zu kaufen, denn das kann man. Es ist ja auch tatsächlich sehr viel einfacher und wahrscheinlich auch moderner als zum Beispiel die Empörung, von der schon die russischen Anarchisten vor 100 Jahren gemeint haben, dass sie ein notwendiges Element jeder gesellschaftlichen Entwicklung sei. Vielleicht hatten sie ja recht. Aber denen, die sich empören, hilft die Empörung selten. Höchstens vielleicht ihren Kindern und Kindeskindern – und auch das ist nicht so sicher.

Es ist also eine eigenartige Sache mit der Gelassenheit. Wer sie sich leisten kann, dem tut sie wahrscheinlich gut. Wer sie sich nicht leisten kann, den reitet sie möglicherweise noch mehr hinein ins Elend. Aber auch dem, der sie sich leisten kann, könnte ‚sie‘ auf Dauer Schwierigkeiten bereiten, wenn er vor lauter Gelassenheit auf seinen Job vergisst. ‚Sie‘ gilt natürlich in der weiblichen Form genauso, aber die politisch korrekte Gendergerechtigkeit macht den sprachlichen Ausdruck so schrecklich holprig. Und ab einem gewissen Alter, in dem ich schon bin, nimmt man erboste Frauen für eine flüssige Sprache in Kauf: wegen der Gelassenheit.

Wenn Anleitungen zur Gelassenheit boomen, gibt es einen Markt für dieses Produkt.

Wenn also Anleitungen zur Gelassenheit boomen, dann könnte das durchaus ein Anzeichen dafür sein, dass es für dieses Produkt einen Markt gibt. Und das wiederum deutet darauf hin, dass es genügend Menschen gibt, die sich Gelassenheit leisten können. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – sie beruflichen Stress haben. Es muss aber schon Stress auf recht hohem Niveau sein, bei dem man Zeit findet, sich mit der schicken, weil gerade modernen Gelassenheit zu beschäftigen. Und natürlich muss es schnell und leicht gehen, denn für langwierige Vorbereitungen fehlt uns die Zeit. Hier ein paar Titel und es gibt noch viel mehr davon:

Es gibt also keinen Mangel an Ratgebern für Gelassenheit. Aber niemand rät einem, wütend zu sein. Tatsächlich ist es eine feine Sache, wenn einer mit dem Rücken zur Wand steht und dann noch in der Lage ist, entspannt zu lächeln. Ich zum Beispiel kann das nicht. Ich kann nur verbissen und ohne jede Gelassenheit daran arbeiten, möglichst nicht in Situationen zu kommen, in denen mir die Gelassenheit ausgeht. Eine vor einigen Jahren von Christa Bös verfasste Masterarbeit in Soziologie zum Thema Konfliktmanagement trägt den Titel ‚Sometimes you must have a conflict‘. Dieser Titel entstammt dem Ausspruch eines Managers, der in einem Interview meinte, dass manche Situationen klare, notfalls auch verletzende Worte erfordern, wenn sie nicht in ewigem Unbehagen enden sollen, das auf die Länge mehr emotionale und oft auch finanzielle Kosten verursacht als ein einmaliger – vielleicht auch heftiger – Streit. Aber eigenartigerweise gibt es keine Ratgeber für Wutanfälle, nur für Gelassenheit. Könnte es sein, dass sich das Thema Klarheit nicht so gut verkauft wie das Thema Gelassenheit? – Und falls es so sein sollte: Woran könnte das liegen?
Hier eine mögliche Antwort: Mit Wut und Aggression haben wir viel Erfahrung. Es gibt einen weitgehenden Konsens darüber, dass Aggression etwas Böses ist. Da unsere Geschichte uns eskalierte Aggressionen in Form von Kriegen in ausreichender Menge beschert hat und das noch immer tut, ist das auch sehr verständlich. Und da wir mit diesem Erfahrungshintergrund darauf trainiert sind, alles zu vermeiden, was böse ausschaut, nicht aber, die potenziell produktiven Seiten dieses sogenannten Bösen zu suchen, laufen wir vor der Wut davon, anstatt herauszufinden, ob sie nicht auch ein brauchbares Veränderungspotenzial enthalten könnte. So ganz nebenbei liefert uns das auch bisweilen sehr praktische Begründungen, wütende Menschen als böse zu definieren, zu meiden und/oder zu mobben. Das christliche Gebot, die Feinde zu lieben, ist, soweit mir bekannt ist, bis jetzt noch von keiner Regierung des christlichen Abendlandes auch nur erwogen, geschweige denn eingehalten worden. Es wäre wohl auch nur dann erfolgreich gewesen, wenn sich auch die Feinde daran gehalten hätten, was bisher noch nie zu erwarten war. Wenn wir aber dieses Gebot mal nicht aus der Perspektive einer persönlichen Tugend betrachten, sondern aus der Perspektive der persönlichen Weiterentwicklung und/oder Reform von Gesellschaften, würde dann die Liebe oder – wenigstens als Vorstufe – der Versuch, die Motive der Feinde zu verstehen, mitunter dazu führen können, zu erkennen, was die Feinde zu Feinden gemacht hat? Schließlich sind es meistens nur die Feinde, die uns, wenn wir ihnen zuhören würden, das über uns sagen könnten, was weniger freundlich, weniger geschmeichelt und gerade deshalb wahrscheinlich besonders wichtig ist. Regeln des Zusammenlebens zu entwickeln, die es für die Feinde erübrigen, Feinde zu sein, geht wohl nur so.

Ein gewisser Jesus von Nazareth, dem für gewöhnlich Sanftmut und Nächstenliebe nachgesagt werden, hat sich angesichts unhaltbarer Zustände im Tempel gar nicht sanftmütig und schon gar nicht gelassen aufgeführt. Das hat ihn auch das Leben gekostet. Denn sich mit der religiösen Oberschicht anzulegen ist allerorts und zu allen Zeiten mehr als ungesund gewesen. In den Apokryphen finden sich Texte, die ihn auch schon als Jugendlichen eher jähzornig und pubertär-aufrührerisch beschreiben: von Gelassenheit keine Spur. Aber mit seiner Forderung, die Feinde zu lieben – obwohl das Bedeutungsfeld des aramäischen Wortes für ‚Liebe‘ wahrscheinlich nicht exakt dasselbe ist wie bei uns –, hat er das entscheidende Element formuliert, das für das Funktionieren einer Weltgesellschaft notwendig wäre – wenn wir’s nur schaffen täten.

Gelassenheit ist etwas Feines, wenn man sich Schwierigkeiten ersparen möchte.

Gelassenheit ist etwas Feines, wenn man sich Schwierigkeiten ersparen möchte. Sie dürfte aber eher weniger hilfreich sein, wenn man sich selbst oder die Regeln des Zusammenlebens mit anderen weiterentwickeln möchte. Eine Weltgesellschaft, in der das Respektieren von Menschenrechten mehr ist als nur ein frommer Wunsch, würde die Liebe zu den Feinden – oder wenigstens den Respekt vor ihnen – erfordern. Ich weiß nicht genau, wie gut so etwas mit Gelassenheit vereinbar ist, habe aber meine Zweifel.

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Dr. Anselm Eder

Dr. Anselm Eder

Dr. Anselm Eder, geboren 1947 in Wien, hat bis 2012 als Universitätsprofessor am Institut für Soziologie mit Forschungsschwerpunkten unter anderem in den Bereichen ‚Medizinische Soziologie‘, ‚Körpersprache als Beobachtungsfeld‘ und ‚Simulation sozialer Interaktionen‘ gearbeitet. Seit ...
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