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Leben

Zwischen ‚Heil' und ‚Spiritualität' wird oft ein Zusammenhang hergestellt und die Erwartungshaltungen sind hoch. Doch wo genau kann uns dieses versprochene ‚Heil' begegnen? Unter Spiritualität verstehe ich den bewussten Umgang des Bewusstseins mit sich selbst.


Dieser Umgang kann eine Übung der Integration unterschiedlicher Bewusstseinsimpulse sein (Denken, Fühlen, Wollen), sie kann der Konzentration der Gedanken dienen, sie kann auch gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit zum Ziel haben. In jedem Falle ist es ein Ausloten der Potenziale, die noch nicht ausgelotet oder realisiert sind. Spiritualität ist die Entdeckung des Möglichen. Unter Heil, ‚salus', verstehen die Religionen, die diesen oder verwandte Begriffe gebrauchen, ein letztes Ziel des individuellen Lebens, oft auch ein gültiges Ziel der gesamten Weltgeschichte. Heil hat also eine Dimension des Kosmischen oder der Gesamtdeutung von Welt und Geschichte. Religionen bieten in diesem Sinne Heilswege an, das heißt, durch bestimmte innere Haltungen und nach außen sich zeigende Verhaltensweisen soll Heil ermöglicht werden – durch Glauben, durch Opfer, durch sittliches Verhalten, unter anderem durch ekstatische Bewusstseinserfahrungen. Die ganze historische Bandbreite religiöser Gestaltungsmöglichkeiten lässt sich unter diesen Begriff fassen. ‚Heil' ist also eine ganz andere Begriffskategorie als ‚Spiritualität' und doch stehen beide Begriffe in einem Zusammenhang. Denn durch spirituelle Praxis sollen Heilswege erkannt und als Möglichkeiten für die eigene Lebenspraxis realisiert werden. Spiritualität beziehungsweise spirituelle Praxis wird dann zum ‚Mittel', um bestimmte Heilsvorstellungen zu verwirklichen.

 

Freilich sind Heilsversprechen heute nicht mehr an Religionen gebunden.

 

Dies freilich ist ein problematischer Zusammenhang. Warum? Weil Heilsziele vorgegeben, in bestimmtem Sinne schon definiert sind, während wir ja Spiritualität als ‚Entdeckung des Möglichen' beschrieben hatten. Wenn das Mögliche schon bekannt wäre, wäre es schon wirklich – zumindest im Bewusstsein. Das Besondere des Spirituellen ist aber die Offenheit, also die Entdeckung dessen, was wir noch nicht kennen. Genau das ist eine Spannung, die in den Religionen liegt: Religionen beschreiben in Mythen, Weltanschauungen und Ritualen das, was immer gültig ist (dharma, Weltgesetz, der Wille Gottes), während Spiritualität allen Bildern und Vorstellungen mit Skepsis gegenübertritt, denn sie sind historisch geworden und abhängig von menschlichen Projektionen. Das ist die Spannung zwischen einer dogmatisierten Religion und den jeweiligen ‚mystischen Aufbrüchen', eine Spannung, die vielen Religionen inhärent ist. Während religiöse ‚Techniken', wie zum Beispiel Opfer und damit verbundene Gebetspraxen, den Lauf der Welt (beziehungsweise den Willen Gottes) zu manipulieren versuchen, und zwar den jeweiligen Interessen des Individuums oder denen einer religiösen Gruppe entsprechend, haben spirituelle Praxen den Durchbruch durch festgelegte Vorstellungen und Bilder zum Ziel. Freilich sind Heilsversprechen heute nicht mehr an Religionen gebunden, und dies ist in Europa spätestens seit der Renaissance der Fall. Religionen leben von Utopien, eben jenen Heilsversprechen für eine bessere Welt, aber Utopien kommen auch unabhängig von ritualisierten Religionssystemen zur Geltung. Die Geschichte solcher heilsversprechender Utopien ist lang und wir können hier nur eine sehr vereinfachte Formulierung versuchen. Entsprechend den Bedingungen menschlichen Erkennens, das an die Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität gebunden ist (Immanuel Kant), können wir drei Formen der Utopie unterscheiden: zeitliche Utopien, räumliche Utopien und Bewusstseinsutopien.

 

Religionen leben von Utopien.

 

Zeitliche Utopien verlegen den Heilszustand an den Anfang oder das Ende der Geschichte. In mehreren Religionen wird der Anfangszustand als Paradies, Garten Eden oder Goldenes Zeitalter beschrieben. Sowohl in den Mythen des Mittelmeerraumes als auch im indischen Mythos ist dieser Zustand durch Fruchtbarkeit, langes Leben, Harmonie zwischen Mensch und Natur und Gewaltfreiheit in der menschlichen Gesellschaft gekennzeichnet. Durch den ‚Sündenfall' oder einen wie immer gearteten kosmischen Bruch wird dieser Zustand beendet und der Mensch findet sich wieder in einer von Widersprüchen geprägten Daseinsform. Dies kann bezeichnet werden als ein von der Tragik der Dualität durchzogener Seinszustand. Interessant ist, dass im biblischen ‚Sündenfall' der paradiesische Urzustand beendet wird durch einen Akt der Erkenntnis und Entdeckung des eigenen Willens (Adam isst die verbotene Frucht). Der Mensch fällt aus der Einheit heraus in die Dualität, auch in die Dualität der Geschlechter und Geschlechtlichkeit, die von nun an das menschliche Dasein prägen und plagen wird. Was bleibt, ist die Sehnsucht nach der anderen verlorenen Hälfte, wie es Platon im Symposion beschreibt. Die Einheit ist verloren und Heil bestünde darin, sie wieder zurückzugewinnen. Dies wird projiziert auf einen Endzustand, die ‚Erfüllung' der Heilsgeschichte. Sie kann durch göttliches Wirken oder menschliche Bemühung erfüllt werden, meist wirkt beides in je unterschiedlichen Mischungsverhältnissen zusammen. Auch die spirituelle Praxis (Gebete, Meditationen, die sechs Paramitas im Mahayana-Buddhismus) wird dann als Mittel zu diesem Ziel verstanden. Gelegentlich finden wir solche Heilsvorstellungen objektiviert dargestellt in einem rhythmisch ablaufenden Geschichtszyklus. Das ist zum Beispiel im Hinduismus der Fall, wo die vier Yugas einander ablösen, bis im kali-yuga die Lebensqualität am geringsten geworden ist. Spirituelle Praxis kann diesen Zustand im Allgemeinen nicht verändern, wohl aber für das Individuum aufheben beziehungsweise unerheblich machen. Der Einzelne kann sich gleichsam aus den Klammern der negativen Geschichtsdynamik, die durch Karma angeheizt wird, befreien. Auch die Ankündigung von neuen Zeitaltern in den europäischen Traditionen fällt in diesen Typus von Heilserwartung: Jeweils zur Jahrtausendwende oder anderen markanten Daten (nicht selten durch die Astrologie ermittelt) soll ein neues Zeitalter anbrechen und die Aufgabe des Menschen bestünde darin, dies zu erkennen und entsprechend zu reagieren. Doch bisher haben sich alle Erwartungen und Verheißungen nicht erfüllt, der Anbruch der heilvollen Endzeit ist ausgeblieben.

 

In mehreren Religionen wird der Anfangszustand als Paradies, Garten Eden oder Goldenes Zeitalter beschrieben.

 

Räumliche Utopien verlegen das Heilsverlangen in einen Raum jenseits der eigenen Lebenswelt: Atlantis, El Dorado, Shambhala, ‚das Land, wo Milch und Honig fließt', nicht uneingeschränkt, aber im Volksglauben durchaus auch: das Reine Land (sukhavati, jodo) der Buddhisten. Es sind unentdeckte und unbekannte Territorien, die für solche Projektionen infrage kommen, und die Religionen haben ihre jeweiligen Mythen dafür entwickelt. Meist kann der Mensch durch geeignete religiöse Praxis (Glaube, Riten, Gebete, Einhalten von moralischen Vorschriften) in ein solches Land gelangen. Mit der zunehmenden Vermessung der Erde sind mögliche Orte für einen solchen Nicht-Ort (u-topos) rar geworden. Im Zeitalter von Google Earth gibt es keine weißen Flecken mehr auf der Landkarte und so musste die räumliche Utopie ausziehen in extraterrestrische Bereiche (ET). Nun wird das Heilsversprechen in den kosmischen Raum verlegt und die bessere Welt wird auf einem anderen Stern gesucht. Bewusstseinsutopien werden in den Raum verlegt, der in der Tat noch weithin unbekannt ist: das Bewusstsein des Menschen. Dieses ist kausaler Ursprung allen Handelns, denn das, was wir wollen und tun und erkennen, wird im Bewusstsein präfiguriert; außerhalb des Bewusstseins ist für menschliches Erkennen keine ‚Welt'. Insofern wir den Begriff der Spiritualität mit der Dynamik von Möglichkeiten des Bewusstseins verknüpft hatten, ist hier der engste Berührungspunkt zwischen Spiritualität und Bewusstsein gegeben. Die Utopie besteht in der Realisierung der noch unentdeckten Möglichkeiten des Bewusstseins. Dies ist die Domäne der mystischen Traditionen in allen Religionen und es ist der spezifische Raum, den der Buddhismus wesentlich zu entwickeln trachtet. Heilsversprechen werde dann nicht an einen fernen Ort oder in eine ferne Zeit verlegt, sondern sie sind hier und jetzt zu realisieren, wie es nicht nur bei Meister Eckhart heißt.

UW89 heilversprechen in der Spiritualität

Hier freilich muss man sich vor Illusionen hüten: Die Entwicklungsgeschichte der Menschheit ist lang und wir überschauen vom heutigen Standpunkt aus allenfalls die letzten 3.000 Jahre. Wie sich der Mensch weiterentwickeln kann und wird, ist ungewiss. Ob er tatsächlich zu einem anderen Bewusstseinszustand erwachen kann, der nicht nur in individuellen Augenblicken des ‚Durchbruchs' die Vollkommenheit einer anderen Lebensmöglichkeit aufblitzen lässt, sondern habituell das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen grundlegend verändert, sei dahingestellt. Wie die hier intendierte Vollkommenheit oder Ganzheitlichkeit aussehen sollte, hat der Buddhismus eindrücklich in seiner zweitausenddreihundertjährigen Geschichte gelehrt. Einigen Menschen ist eine Ahnung und einigen wenigen sogar eine Erfahrung von einem solchen Zustand zuteilgeworden. Man wird allerdings wohl kaum mit Recht annehmen können, dass dies das Verhalten der großen Mehrheit der Menschen bereits verändert haben würde. Das ‚Heilsversprechen', dass alle Lebewesen die Buddha-Natur (buddhatva) haben (oder die Buddha-Natur sind, wie sich Zen-Meister Dogen (1200-1253) ausdrückt), ist also (noch) ein Glaube, der als Möglichkeit in Raum und Zeit steht, aber nicht verwirklicht ist. Spirituelle Praxis strebt diesem Ziel entgegen, sie scheitert aber auch immer wieder an den Gegebenheiten der realen geschichtlichen beziehungsweise karmischen Bedingungen des Menschen.

 

Nun wird das Heilsversprechen in den kosmischen Raum verlegt und die bessere Welt wird auf einem anderen Stern gesucht.

 

Das ist kein Argument gegen die Utopie, wohl aber ein vorsichtig-skeptischer Blick auf die Gegenwart. Heilsversprechen können ermutigend zur Praxis sein, sie können aber auch hinderlich sein, wenn sie die nüchterne Klarheit des Blicks auf die Realität vernebeln. Was ist nun die angemessene Haltung angesichts dieses hier beschriebenen Befundes der Widersprüche zwischen Erwartung und Erfüllung oder Möglichkeit und Wirklichkeit? Man kann auf das Problem unterschiedlich reagieren: mit Zynismus, mit verspannter Hoffnung und mit gelassenem Humor. Der Zynismus fegt jede Utopie auf den Abfallhaufen der Geschichte. Er hat die Verbesserungsfähigkeit des Menschen und seiner Lebensverhältnisse aufgegeben und erwartet nur das, was schon bekannt ist. Er verwechselt Weltverbesserungsfantasien mit tatsächlicher Praxis bei der Herausbildung von Erkenntnis und Mitgefühl. Eine solche Haltung ist falsch. Sie verkennt, dass es tatsächlich eine Vertiefung von Erkenntnis gibt (die Wissenschaftsgeschichte ist der Beweis dafür), die allerdings nun auch auf die Funktionsweisen des Bewusstseins selbst ausgedehnt werden kann und soll. Mitgefühl ist Einsicht in tiefere Zusammenhänge, nicht nur der Appell an den guten Willen. Verspannte Hoffnung erwartet zu viel auf einmal. Angesichts der Probleme der Menschheit und der Tatsache, dass das Überleben der Spezies tatsächlich von einem tiefgreifenden Bewusstseinswandel abhängt, könnte diese Haltung als plausibel erscheinen. Verspannte Hoffnungen erzeugen aber einen Erwartungsdruck, der sich zu Ideologien ausformen kann, wobei der erwartete (und versprochene) Heilszustand mit Mitteln herbeigezwungen wird, die der Ganzheitlichkeit des Zustandes selbst widersprechen, also mit Gewalt. Dies kann kollektive Gewalt sein (die sich in ‚Befreiungskriegen' entlädt) und dies kann individuelle Gewalt sein, die das eigene Bewusstsein verbiegt und damit unfähig zur Ruhe und Ganzheitlichkeit macht. Kurz: Verspannte Hoffnung kann totalitär werden und damit das zerstören, was sie erhofft. Die Geschichte ist voller desaströser Beispiele dafür.

 

Reifung des Bewusstseins, und zwar individuell wie kollektiv.

 

Davon unterscheidet sich der gelassene Humor, gerade auch angesichts der oft naiven Heilsversprechen. Humor bedeutet, mit Selbstdistanz auf die eigene Bemühung blicken zu können, heißt, trotz wiederholten Scheiterns das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten und den Mut nicht zu verlieren. Humor als behutsame Selbstdistanz eröffnet überhaupt erst die Freiräume für kreatives Handeln, das sich nicht an schablonenhaft vorgegebenen Mustern orientiert. Das ‚Heilsversprechen' in der Spiritualität ist, solchen gelassenen Humor zu entwickeln, der mittels gütiger Ermutigung die spirituelle Praxis der bewussten Integration von einander widerstrebenden Bewusstseinsimpulsen ermöglicht. Das bedeutet: Reifung des Bewusstseins, und zwar individuell wie kollektiv. Insofern ein gesammeltes und achtsames Bewusstsein gelernt hat, komplementäre Gegensätze zu integrieren, also etwa Eigeninteresse und allgemeines Interesse zu einer neuen Lebensqualität im Augenblick in Übereinstimmung zu bringen, ist eine Erwartung, die in den Mythen der Religionen formuliert worden ist, gegenwärtig erprobt. Das ist der Inbegriff von spiritueller Praxis.

Michael von Brück, geboren 1949, Professor für Religionswissenschaft an der Universität München, Studium der Evangelischen Theologie, des Sanskrit und der Indischen Philosophie in Rostock, Bangalore und Madras, fünfjährige Dozentur und Studium in Indien, Ausbildung zum Zen- und Yoga-Lehrer in Indien und Japan (Kursleitung in Deutschland, Schweiz, USA und Indien), mehrmals Gastprofessor in den USA, Thailand und Vietnam (zuletzt 2012), Mitglied des Zentrums für Buddhismusforschung und des Humanwissenschaftlichen Zentrums an der Universität München. Zahlreiche Publikationen zum Buddhismus, Hinduismus, Interkulturellen Dialog, zuletzt (mit Günter Rager): Grundzüge einer modernen Anthropologie (2012).
 
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Kommentare  
# Meisenbacher Uwe 2016-08-14 12:50
Hallo Herr von Brück!

Ihrer Empfehlung, statt auf Zynismus und verspannte Hoffnungen zu machen, lieber den gelassenen Humor zu praktizieren, kann ich aus meinen eigenen Erfahrungen und Erkenntnissen zustimmen.
Wobei das aber gar nicht so einfach ist, wenn die herrschenden Finanz-, Wirtschafts-, und Politik-Eliten eine soziale und umweltverträgliche Ökonomie verhindern. Durch ihre maßlose Gier nach Profitmaximierung ist ihnen Ethik und Moral scheißegal. Sie machen Reiche reicher und Arme ärmer und zerstören die lebensnotwendige natürliche Umwelt.

Mit freundlichen aberglaubensfreien buddhistischen Grüßen
Uwe Meisenbacher
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