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Diskurs

Wir wollen ein gutes Leben führen, doch auf welchem moralischen Grundgerüst wurzelt unser Handeln? Hamid Reza Yousefi, Privatdozent für Geschichte der Philosophie, über Ethik im religiösen Kontext, universale Menschenwürde und was der Staat dazu beitragen kann.

Was ist ein ethisch richtiges Leben?

Ein ethisch richtiges oder falsches Leben lässt sich nicht per definitionem festlegen. Der Anspruch ist und sollte sein, das eigene Glück zu suchen und gleichsam bemüht zu sein, das Glück des Anderen zu fördern. Im christlichen Kontext heißt dies ‚Nächstenliebe‘ und im islamischen Kontext ‚liebende Gerechtigkeit‘. In jedem religiösen Kontext gibt es ethische Systeme, denen ein jeweils individueller Wert zugesprochen werden kann. Das heißt jedoch nicht, dass potenziell alle Werte einen identischen Geltungsanspruch haben. Vielmehr lassen Werte einen Pluralismus zu, in dem sie sich wechselseitig positiv ergänzen können.

Brauchen wir eine gemeinsame Ethik abseits von Religion, um ein gutes Leben führen zu können?

Ich bin kein Befürworter einer solchen Ethik. Dies würde eine vollkommene Einheitlichkeit der Menschheit voraussetzen, mit der Auflösung aller Werte und Normen der Völker. Vielmehr kommt es darauf an, dass wir Menschen in ihrer Verschiedenheit untereinander respektieren und wertschätzen lernen. Ich stimme dem Gedanken zu, dass der Mensch einer Ethik bedarf, die nicht notwendigerweise aus dem religiösen Kontext heraus motiviert ist, aber selbst darf diese Ethik keinen Totalitätsanspruch darstellen. Mein Vorschlag ist daher wertschätzende Anerkennung.

Welche Rolle spielen ethische Werte für ein gutes Leben?

Ethische Werte geben uns Menschen grundsätzlich Orientierung und gelten gewissermaßen als Kompass. Der Mensch braucht, jenseits aller Freiheitssehnsüchte, eine Orientierungsinstanz, nach der er seine Handlungen ausrichtet. Freilich dürfen und sollen diese Wertekonzepte nicht als übermächtiges Korsett betrachtet werden, das den Menschen seiner Freiheiten beraubt. Sie sollen ja gerade seine maximal mögliche Freiheit im gemeinsamen Miteinander mit anderen Menschen ermöglichen, ohne die Freiheit anderer einzuschränken.

Wer entscheidet, was ethisch gut oder falsch ist?

Ethische Wertesysteme sind Kinder der Tradition und Tradition wiederum geht aus der Kultur hervor, die Menschen beeinflusst und in vielfältiger Hinsicht verändern kann. Letztlich ist es der Mensch, der Kultur und Tradition hervorbringt, soziale Ordnung schafft, religiöse Unterweisungen formuliert und sich damit Wertesysteme schafft, die aus der Sicht des jeweils Anderen als gut oder schlecht empfunden werden können. Dabei lässt sich festhalten, dass Kultur nicht als statisch fixiertes, unbewegliches Gebilde ähnlich einer Billardkugel zu betrachten ist. Sie lässt sich begreifen als dynamisches, offenes und veränderungsaffines Sinn- und Orientierungssystem, das von Veränderungen gewissermaßen abhängig ist und sich notwendigerweise verändern muss.

Kann ich auch ein gutes Leben führen, wenn ich nicht ethisch korrekt lebe?

Da muss zunächst debattiert werden, was ein gutes Leben überhaupt ist und ob ein gutes Leben ohne Ethik als korrekt empfunden wird. Fakt ist, dass der Mensch immer einen Maßstab braucht, auch wenn er Ethik durch eine vernunftverwurzelte Lebensführung zu ersetzen glaubt. In einer Gesellschaft, in der Individuen mit vielen Welt- und Menschenbildern sowie Herkünften und Biografien zusammenkommen, kann nicht jeder die Maßstäbe seiner Handlungen selbst definieren. Eine gewisse allgemeinverbindliche Vorstellung von Ethik ist immer erforderlich. Gleichzeitig heißt das, dass bestimmte Werte auch aus dem jeweiligen Kontext, in dem Menschen leben und miteinander interagieren, definiert werden müssen.

Können wir überhaupt hier im Westen sagen, dass wir ein gutes Leben haben, wenn unser Reichtum auf Kosten der sogenannten Dritten Welt geht?

Diese Frage lässt sich nicht pauschal mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ beantworten. Auch ist zu betrachten, was hier mit ‚Wir‘ gemeint ist. Was unsere Politiker tun und sich auf der Weltbühne erlauben, vom Irak über Libyen und Syrien, hängt nicht zwingend mit der Stimme des Volkes zusammen. Fast alle Kriege, die nach dem 11. September durch unsere westliche Allianz geführt worden sind, wurden gegen den Willen des Volkes durchgesetzt. Die politischen Administrationen sind das eine und das Volk das andere. Das zeigt unter anderem auch eine politisch vorbelastete Modellierung des Demokratiebegriffes. Wenn wir unter Demokratie eine Form der Wirtschaftsdiktatur verstehen oder andererseits Demokratie mit einer unmittelbaren Volksentscheidung gleichsetzen, führt dies notwendigerweise zu einem falschen Verständnis von Demokratie und öffnet einem gewaltbereiten Publikum sehr schnell Zugänge zu den Bühnen politischen Handelns.

Was sehen Sie als die wichtigsten globalen und persönlichen ethischen Werte?

Als einen grundsätzlichen und damit globalen Wert sehe ich die Menschenwürde, die leider überall auf unterschiedliche Weise mit Füßen getreten wird. Es ist eine Realsatire, dass auch unsere Politiker über demokratische Werte wahre Hymnen singen und gleichzeitig diese Würde und damit auch das Minimalrecht der Völker missachten. Ich erinnere hier nur an den Einmarsch der westlichen Allianz ohne UNO-Mandat. Mit der Ethik von Menschenwürde und Menschenrechten hat dies alles wenig bis nichts zu tun. Die Frage nach der Universalität der Menschenwürde ist daher dringender denn je geworden. Und damit geht auch die Frage nach der Bedeutung von Werten einher.

Ist in Zeiten der Globalisierung eine religionsübergreifende Ethik wichtiger als je zuvor?

Ich denke, dass Ethik mit und ohne Religion möglich sein muss. Wie können wir in einer zwar zerklüfteten, aber unleugbar vielfältigen Welt eine Einheitsethik zugrunde legen, ohne den Pluralismus zu beschneiden? In einem islamischen Land gelten islamische Werte und Normen, in einem europäischen Land herrschen auch christliche oder nichtchristliche Werte. Das Gleiche gilt für buddhistische oder hinduistische Gesellschaften, die wiederum in sich vielfältig sind. Das heißt, wir haben es hier mit Pluralitäten innerhalb von Pluralitäten zu tun. Das soll nicht heißen, dass wir uns nur in den Grenzen eines Relativismus bewegen müssen, indem wir unsere Konzeptionen von Werten und Normen als relativ zu anderen betrachten, mit denen wir uns umgeben. Konkret geht es um die Frage, welche relativen Werte wir auch außerhalb unseres persönlichen Wertekorpus als gültig und insofern notwendig betrachten müssen.

Wer fördert Werte und Ethik? Der Staat?

Der Staat sollte vielleicht ethische Werte wahrhaftig fördern. Um dies zu bewerkstelligen, benötigen wir einen völlig neuen Pragmatismus, den ich als aufrichtig bezeichne. Wenn wir bemüht sind, Religion aus dem öffentlichen Leben zu tilgen, dann haben wir innerhalb unserer Gesellschaft einen Keil getrieben, der aus denkenden Menschen Konsumfetischisten macht. Gehe ich shoppen, kaufe ich ein schönes Auto, habe ich einen tollen Job, so bin ich glücklich. Das Ergebnis dieser Denkweise ist eine Konkurrenz ohne Verantwortungs- und Gerechtigkeitssinn. Dies sind Werte, die mit der Ethik einer Gesellschaft zusammenhängen. Ein solcher Materialismus kann nicht mit einem ethisch verantwortungsvollen Leben einhergehen und kann daher nicht zielführend sein. Das heißt andererseits aber nicht, dass dieser pauschal von vornherein abzulehnen ist, sondern bloß, dass ein bestimmtes, weises Maß gefunden werden muss, an dem wir uns orientieren können. Ein Zuviel von allem ist schädlich.

Woher nehmen wir dann positive Werte und Ethik?

Natürlich sollte Religion in unseren westlichen Gesellschaften wieder einen gebührenden Platz bekommen, damit der Mensch ein Refugium hat, um Besonnenheit und Ruhe zu erlangen. Damit geht eine Spiritualität einher, die durch eine recht verstandene Religion gewährleistet wird. Das bedeutet nicht, sich in mystischen Erklärungen und Erscheinungen zu verlieren, sondern bloß, sich des religiösen Umfeldes und Konzeptes, das für die eigene Person als prägend empfunden wird, bewusst zu werden. Mit diesem neuen Bewusstsein, einer bewussten Besinnung auf das, was uns in unserem Alltag hilft, mit den Problemen der menschlichen Existenz zurechtzukommen, kann auch die Religion einen entscheidenden Beitrag zu einem harmonischen Miteinander in der Gesellschaft leisten.

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Glauben Sie, kann uns die Ethik helfen, eine Lösung für unsere Probleme zu finden? Wie zum Beispiel, wie wir mit den Flüchtlingsströmen umgehen sollen?

Nein, Ethik hat zunächst einmal damit nichts zu tun. Dies ist eine rein politische Angelegenheit. Genauer gesagt, dies ist das Ergebnis des Flüchtlingszustroms, der größtenteils durch die kriegsfördernde Unterstützung unserer Politiker außerhalb der europäischen Grenzen gefördert wird. Schauen Sie einmal genau hin: Diese Flüchtlinge kommen in der Regel aus denjenigen Ländern, in denen unsere Politiker direkt oder indirekt an einem Krieg beteiligt sind. Diejenigen, die daraus ein ethisches Problem machen und das Volk dazu auffordern, diese Probleme durch selbstlose Hilfe auszubaden, wissen nicht, was Menschenwürde, Menschenrechte und Mitmenschlichkeit bedeuten. Durch politische oder persönlich motivierte Macht- und Wirtschaftsinteressen etlicher Politiker werden in der Gegenwart Kriege dort entfacht, wo ohnehin großes Konfliktpotenzial besteht, und statt diese zu einem Ende zu führen, werden scharfe Sanktionen verhängt, die die Menschen betroffener Regionen im Weltdiskurs herabwürdigen.

Ist eine völkerübergreifende Ethik erstrebenswert?

Eine völkerübergreifende Ethik kann es nur als wunderbare Theorie ohne jegliche Praxistauglichkeit geben. Schauen Sie sich das Panorama der Theorien an. Wir benötigen eine aufrichtig-pragmatische Verantwortungsethik, nach der die Logik des Herzens mit der Logik des Verstandes eine neue Partnerschaft eingeht. Fehlt eine dieser Dimensionen, so sieht das Ganze wie ein Mensch aus, der mit einem einzigen Bein tadellos zu laufen glaubt. Das aber ist nicht möglich. Das Idealbild einer solchen weltweiten Ethik ist zwar ein wunderbares Gedankenexperiment, jedoch in der Realität nicht zielführend. Es kommt hier darauf an, dass der Mensch ein Handeln für sich anstrebt, welches vom Umschauen und genauen Hinschauen geprägt ist. Dort hinzuschauen, wo andere die Augen abwenden oder verschließen.

Würde mehr ethisches Verhalten gefördert werden, was würde es bei uns selbst, innerhalb unserer Gesellschaft und weltweit auslösen? Und wäre das überhaupt möglich?

Wie ich gerade gesagt habe: Wir brauchen eine aufrichtig-pragmatische Ethik von oben nach unten, also vom Staat ausgehend, und denselben Versuch von unten nach oben, also von der Religion zum Staatsapparat aufsteigend. Dadurch entsteht ein Kreislauf des gegenseitigen Wetteiferns, das Gute gesellschaftsübergreifend zu thematisieren und den Sinn einer Verantwortungsethik in der Gesellschaft begreifbar zu machen. Darin sehe ich den eigentlichen Sinn einer echten Aufklärung. Es geht um eine Versöhnung der Aufklärung echter Religiosität und der Aufklärung der dialogischen Vernunft. Deshalb möchte ich Ihre letzte Frage ausdrücklich mit ‚Ja‘ beantworten.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 94: „Ein gutes Leben"

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Haben Sie persönlich ein gutes Leben?

Nein, ich führe nicht unbedingt ein gutes Leben, sondern ich bin stets bemüht, ein solches Leben zu gestalten. Dabei bin ich mir stets bewusst, dass ein solcher Weg steinig und schmerzlich sein kann. Gute Ziele, die ich aufgrund meiner aufrichtigen Bemühungen erreichen durfte, haben mir Glücksmomente beschert, aus denen ich Kraft und Motivation schöpfe, um diesen Lebensstil an meine Mitmenschen weiterzugeben. Was macht Menschen glücklicher als die Erkenntnis, für sich, für die Gesellschaft und für die Anderen Verantwortung zu übernehmen?

Dr. Hamid Reza Yousefi, geboren 1967, ist Privatdozent für Geschichte der Philosophie und Interkulturelle Philosophie an der Universität Koblenz. Er ist Gründungspräsident des Instituts zur Förderung der Interkulturalität in Trier und Mitherausgeber der Schriftenreihen ‚Interkulturelle Bibliothek‘ und ‚Philosophische Perspektiven‘.
Tipp zur Vertiefung: Hamid Reza Yousefi, Ethik im Weltkontext, Springer VS 2014

Fotos © Pixabay

Ester Platzer

Ester Platzer

Ester Platzer, 1979, lebt in Wien und ist Mitglied der Chefredaktion bei Ursache\Wirkung. Davor lebte und arbeitete sie viele Jahre in Ostafrika. Ester absolvierte ihr Magisterstudium in internationaler Entwicklung an der Universität Wien.
Kommentare  
# Karin Klenk 2019-02-11 14:54
Ethik sollte als verpflichtendes Schuldfach eingeführt werden!
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