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Diskurs

Der deutsche Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff beschäftigt sich neuerdings auch mit Erwachsenen, um die Gründe für Stress und Überforderung in unserer Gesellschaft zu finden. 

Wie kam es, dass Sie sich nun uns Erwachsenen zugewandt haben?

Ich arbeite seit über 30 Jahren mit Kindern und ihren Eltern. Wenn Kinder Auffälligkeiten zeigen, dann sind diese immer im Zusammenhang mit ihren Eltern zu sehen. Jene Eltern, die zu mir kommen, sind sehr engagiert und haben alles für ihre Kinder getan, trotzdem sind ihre Kinder auffällig. Bis 1995 war der Grund für die Auffälligkeiten in der Lebensgeschichte der Eltern zu finden. Bei Eltern, die sich zum Beispiel als Kind nicht ausreichend anerkannt gefühlt haben, besteht die Gefahr, dass sie diese Problematik an ihre Kinder weitergeben.

Winterhoff Peter Wirtz
Was hat sich seit 1995 verändert?

Seit mehr als 20 Jahren begegnen mir immer mehr und heute nahezu ausschließlich Kinder, die sich gar nicht mehr auf dem Entwicklungsstand ihres Alters befinden, sondern auf demjenigen von Kleinkindern stehengeblieben sind. Den Grund dafür sehe ich in der Veränderung der Gesellschaft. Die Ursachen liegen also nicht mehr in der Lebensgeschichte der Eltern, sondern in einer mehr oder weniger massiven gesellschaftlichen Veränderung, die die Erwachsenen nicht verkraftet haben. Gab es in den 90er Jahren nur zwei auffällige Kinder pro Klasse, hat sich das Bild heute völlig gedreht.

 

„Die Kinder sind auf dem Entwicklungsstand von Kleinkindern stehengeblieben.“

 

Wie wirkt sich diese gesellschaftliche Veränderung auf den Erwachsenen aus?

Erwachsene sehen Kinder nicht mehr als Kinder, sondern als Partner. Sie wollen von ihren Kindern geliebt werden. Sie wollen und suchen eine Symbiose. In meiner Beratung geht es daher nicht nur um die Kinder, sondern immer auch um deren Eltern. Ich kann die Kinder nicht verändern. Ich kann sie einschätzen und die Eltern dann beraten, worin die Blockade liegt und wie sie sich verhalten müssen, damit das Kind sich entwickeln kann.

In welchem Zusammenhang sehen Sie die Veränderung der Kinder?

Die Erwachsenen haben sich sehr verändert. Sie geraten immer mehr unter Druck. Wenn Sie durch die Stadt gehen, dann schauen Sie einmal in die Gesichter der Menschen. Sie sehen viele gehetzte, genervte, gereizte und depressive Gesichter. Eine weitere Veränderung, die ich am Verhalten vieler Erwachsener bemerkt habe, ist, dass sie gar nicht mehr fähig sind, das Wesentliche zu sehen. Verantwortung wird dadurch nicht mehr ausreichend übernommen. Diese wir an Schulen oder an Therapeuten delegiert.

 

„Erwachsene sehen Kinder nicht mehr als Kinder, sondern als Partner.“

 

Warum wird die Verantwortung nicht mehr übernommen?

Die Erwachsenen fühlen sich überfordert. Sie glauben, der Chef und auch die Familie fordern zu viel. Aus meiner Sicht liegt die Überforderung jedoch ganz woanders. Die Veränderung der Gesellschaft hat mit der zunehmenden Digitalisierung begonnen. Mit Windows 95 zog mehr oder weniger der Computer in alle Haushalte ein. Wir sind immer weiter in die digitale Welt gerutscht, sodass wir heute in einer multimedialen Gesellschaft leben, doch wir sind es nicht gewohnt, mit den multimedialen Möglichkeiten umzugehen. Dabei will ich gar nicht sagen, dass diese schlecht sind, sondern vielmehr, dass wir damit nicht umgehen können.

Welche Auswirkungen hat der Multimediakonsum auf unsere Psyche?

Unsere Psyche weist mehrere Schwachpunkte auf. Einer davon ist, dass die Psyche sich nicht selbst beurteilen kann. Es gibt Menschen, die unter Depressionen leiden und das selbst nicht erkennen. Der zweite Punkt ist, die Psyche kann gar nicht feststellen, was ihr guttut und was nicht. Der dritte Punkt ist: Die Psyche tut nicht weh. Die Psyche verursacht keine Schmerzen. Wir können unsere Psyche strapazieren, wir können mit ihr Marathon laufen und sie würde nicht wehtun. Würden wir dasselbe mit unserem Körper machen, dann würde das gar nicht gehen. Diese drei Punkte sind wichtig, damit wir Menschen Krisen überstehen können. Wir sind in Krisen hochleistungsfähig. Das Problem ist momentan, dass wir durch die Smartphones viel zu viele Meldungen bekommen, aber das Gehirn kann nur eine bestimmte Menge an Meldungen verarbeiten. Wenn wir zu viele erhalten, dann ist das Gehirn, dann ist die Psyche überfordert.

In welchen Modus geraten wir, wenn die Psyche überlastet ist?

Der Zustand ist vergleichbar mit einer Einkaufstour in der Adventzeit. Ich gebe Ihnen fünf bis zehn Minuten und dann sind Sie nicht mehr Sie selbst. Sie sind nur noch gelenkt durch Reize, also fremdbestimmt. In diesem Zustand befindet sich der Erwachsene von heute aber ständig, da er permanent Meldungen empfangen und über sie verfügen kann. Gleichzeitig verfügt er aber nicht mehr über seine Erwachsenen-Leistungen.

 

„Wir Erwachsene fühlen uns alle überfordert.“

 

Warum fühlt sich der Erwachsene zunehmend überfordert?

Heutzutage sind wir durch die Medien ja bei jedem Ereignis live dabei. Die Psyche aber funktioniert folgendermaßen: Wenn wir eine negative Nachricht erhalten, dann überprüft sie, ob ich davon betroffen bin oder nicht. Wenn aber zehn Meldungen gleichzeitig hereinkommen, dann schafft das unsere Psyche nicht mehr. Der Mensch gerät in einen Zustand diffuser Angst.

Worin sehen Sie die Auswirkungen auf unsere Gesellschaft?

Man sieht es am Beispiel der Regierung. Es besteht doch der Eindruck, dass diese nur taktiert, um wiedergewählt zu werden. So wird auch erklärbar, warum die Deutschen nicht mehr fähig sind, einen Flughafen zu bauen. Früher hätte man es als gemeinsames Projekt angesehen, heute bekämpft man sich gegenseitig. Oft geht es bei Streiks auch gar nicht mehr um die Inhalte. Der Streik wird geführt wie von trotzigen Kindern. Es ist den Streikenden egal, ob die Firma, bei der sie arbeiten, dadurch Schaden nimmt. Hier tritt ein Verhalten zutage, wie man es normalerweise nur von Kindern oder Jugendlichen kennt. Die Menschen fühlen sich unfrei. Kinder sind unfrei, Kinder sind fremdbestimmt, aber wenn ich als Erwachsener über mich verfügen würde, dann bin ich frei. Ich entscheide, ich kann auch klar sagen, das will ich und das will ich nicht.

Was müsste sich in der Arbeitswelt Ihrer Meinung nach ändern?

Wir brauchen Firmen, die ihre Mitarbeiter schützen. Ein gutes Beispiel ist – zumindest in diesem Bereich – der deutsche Autokonzern VW. Die Mitarbeiter müssen um 18:00 Uhr alle Blackberrys abschalten, da die Konzernleitung nicht möchte, dass Mails noch um 21:00 Uhr verschickt werden. Es gäbe viele Ideen, wie Mitarbeiter geschützt werden können – der Arbeitgeber könnte zum Beispiel auch Yoga oder Autogenes Training anbieten.

 

„Die Veränderung der Gesellschaft hat mit der zunehmenden Digitalisierung begonnen.“

 

Wird es in Zukunft einen anderen Umgang mit der Technik geben?

Ich glaube, dass wir irgendwann eine Art Erziehungskodex haben werden. Ich könnte mir vorstellen, dass darin steht, wenn man zum Beispiel Freunde trifft, ist das Handy auszuschalten beziehungsweise man hebt nur in Notfällen ab. Ich meine, muss ich immer erreichbar sein oder geht’s auch ohne Handy? Muss ich wirklich in allen sozialen Netzwerken sein oder kann ich meinen Konsum einschränken? Ich glaube, dass diese Flut an Informationen bald eingedämmt wird.

 

„Wir sollten schauen, wie unsere Psyche funktioniert und was wir tun können, um sie zu schützen.“

 

Was können Erwachsene gegen die Überforderung der Kinder tun?

Wenn Erwachsene sich schon in einem gewissen Ausmaß überfordern, können auch die Kinder nicht mehr gelingen. Wenn der Erwachsene nicht mehr über sich verfügt, dann kann er auch keine Entscheidungen treffen, er kann nicht umsichtig oder weitsichtig sein und schon gar nicht vorausdenkend handeln. Eltern sollten ihre Kinder als Kinder sehen und für diese auch Entscheidungen treffen. Wenn Eltern dazu nicht in der Lage sind, weil sie selbst im Überforderungsmodus gefangen sind, mangelt es ihnen an Erwachsenen-Funktionen.

Welche Konsequenzen zieht ein solches Elternverhalten nach sich?

Kinder wachsen sozusagen grenzenlos auf und bekommen alles, was sie wollen. Somit können sie gar nicht mehr auf die Stufe eines Erwachsenen gelangen. Ein Teil der Entwicklung findet auch über das Nein-Sagen statt. Wenn Kinder immer alles erhalten, wonach sie ‚schreien‘, bleiben sie auf der Stufe von Säuglingen stehen. Nach dem Motto: Wenn ich weine und schreie, bekomme ich die mütterliche Brust. Eine adäquate Begleitung der Nachkommen vom Säuglings- bis zum Erwachsenenalter können Eltern so nicht bewerkstelligen. Deshalb stellt sich in diesem Punkt auch nicht die Frage, was ist mit den Kindern zu tun, sondern wie können sich die Erwachsenen ändern, um wieder als Erwachsene handeln und agieren zu können. Eine Gesellschaft, in der zunehmend Erwachsene leben, die sich gar nicht mehr wie Erwachsene verhalten können, ist in großer Gefahr, Fehlreaktionen oder Fehlentscheidungen zu generieren. Wenn der Erwachsene nicht mehr über sich verfügt, kommt es zu einer Abflachung von Niveau und Werten. Darauf baut aber eine gesunde, reflektierte Gesellschaft auf.

 

„Die Menschen fühlen sich unfrei.“

 

Sind wir Erwachsene auch schon ‚verweichlicht‘?

Der Mensch ist in der Lage, in Krisen- und Katastrophenfällen extrem viel zu leisten, doch im Augenblick leben wir nicht in einem Katastrophenszenario. Die permanente Beschallung mit Krisen- und Katastrophen-Nachrichten, die aufbereitet sind, als wäre man live dabei, katapultiert unsere Psyche in den Katastrophenmodus. Es kommt quasi zu einer Täuschung unserer Psyche. Wir können nicht unterscheiden, ob wir gerade real einen Ausnahmezustand erleben oder einer prekären Situation ausgesetzt sind, und gelangen dann in eine Phase, in der Überdrehtheit und Angst vorherrschen.

Wie können wir der Überforderung entgegenwirken?

Winterhoff: Wir müssen heute etwas tun, damit unsere Psyche stark bleibt. Genauso wie wir uns über Ernährung Gedanken machen, sollten wir auch über unsere Psyche nachdenken und sie stärken. Zum Beispiel könnten wir alle 14 Tage etwas tun, um wieder zu uns zu finden. Für aufgezogene, getriebene Leistungsmenschen ist das natürlich eine Herausforderung. Sie müssten ja zuerst mal ‚runterkommen‘. Yoga, ein Kirchgang oder Meditation können dabei behilflich sein. Und eines ist klar: Je ruhiger die Methode, desto höher ist die Abwehr eines ‚aufgezogenen‘ Menschen. Eine weitere Möglichkeit wäre ein langer, ausgedehnter Spaziergang – alleine, versteht sich – ohne Handy, nicht joggend, nicht mit dem Fahrrad und auch nicht mit dem Hund. Es gilt, einfach nur durch den Wald zu spazieren. Man sollte den Weg kennen und eine Kleinigkeit zu essen und zu trinken mitnehmen, wichtig ist es auch, nicht zu rasen. Wenn Sie sich auf einen Spaziergang von drei Stunden einlassen, werden Sie die Erfahrung machen, dass Sie auf einmal wieder in sich ruhen und über sich verfügen können. Im Jahr 2000 war das noch normal, da musste man dafür nichts tun. Und sobald ich wieder in mir ruhe und über mich verfüge, ist es mir auch wieder möglich, wie ein Erwachsener zu handeln, dann fühle mich wieder frei und bin auch wieder fähig, Entscheidungen zu treffen.

Wie können wir uns schützen?

Mein großes Anliegen ist es, hier den Begriff der Psychohygiene einzubringen. Unsere Gesellschaft befasst sich mit Ökologie und Ernährung, aber noch wichtiger wäre es, sich mit der Psyche zu befassen. Wir sollten schauen, wie unsere Psyche funktioniert und was wir tun können, um sie zu schützen. Wir haben den Sonntag – unabhängig von religiösen Gründen – nämlich aus körperlichen Gründen eingeführt. Sieben Tage am Stück kann man mit der Psyche nicht Marathon laufen. Ein multimediafreier Tag wäre ganz wichtig, damit auch das Gehirn wieder einmal Ruhe findet.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 94: „Ein gutes Leben"

UW94 COVER


Was ist ein gutes Leben?

Ein gutes Leben kann ich haben, wenn ich in mir ruhe, wenn ich über mich verfüge, erwachsen und frei bin.

Führen Sie ein gutes Leben?

Auch ich befand mich früher in diesem Überforderungszustand und dort möchte ich auf keinen Fall wieder landen. Ich gehe demnach regelmäßig in den Wald, jede zweite Woche, immer so für zwei Stunden. Für meine Lebensqualität sind diese Spaziergänge enorm wichtig.

Dr. Michael Winterhoff, geboren 1955, ist Kinder- und Jugendpsychiater sowie Psychotherapeut. Er ist Autor zahlreicher Bücher. www.michael-winterhoff.com

 

Foto Dr. Michael Winterhoff © Peter Wirtz
Header © Pixabay

Ester Platzer

Ester Platzer

Ester Platzer, 1979, lebt in Wien und ist Mitglied der Chefredaktion bei Ursache\Wirkung. Davor lebte und arbeitete sie viele Jahre in Ostafrika. Ester absolvierte ihr Magisterstudium in internationaler Entwicklung an der Universität Wien.
Kommentare  
# Nayala 2017-03-23 09:48
“Ein gutes Leben kann ich haben, wenn ich in mir ruhe, wenn ich über mich verfüge, erwachsen und frei bin.“ .... ein ideales Training hierfür und damit zu unser aller Wohl sind Yoga und Meditation
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# Heidi Kubitza 2017-03-23 09:49
recht hat er
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# Gabi Raeggel 2017-09-25 07:55
Ich habe seit über 35 Jahren beruflich mit Kindern und Eltern zutun, seit 7 Jahren meditiere ich. Danke für diesen Beitrag. Er bringt wichtige Dinge phantastisch auf den Punkt.
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