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Leben

Die Natur sollte unser Freund sein. Wenn die Menschen endlich begännen, Insekten zu mögen, wäre das ein erster wichtiger Schritt – eine Einladung. 

In manchen Bereichen unseres Lebens gibt es Befunde, die mit wissenschaftlichen Fakten nicht übereinstimmen. So ein Widerspruch besteht zwischen dem Anspruch der meisten Menschen, ihre Freizeit in der grünen Natur verbringen zu wollen, und der tatsächlich gelebten Realität. Nach einer Studie der Bausparkassen in allen Regionen der Bundesrepublik Deutschland gaben 62 Prozent der Befragten an, am liebsten in ländlicher, naturnaher Umgebung zu wohnen. Lediglich 8,6 Prozent wollen im verbauten Zentrum einer Stadt leben.

Koreanische Mediziner wiederum ließen ältere Menschen eine Stunde lang durch einen Wald spazieren gehen. Danach war der Blutdruck der Testpersonen deutlich gesunken, die Lungenkapazität hatte zugenommen und die Elastizität der Arterien sich verbessert. Eine Vergleichsgruppe, die einen genauso langen Stadtrundgang gemacht hatte, zeigte keinerlei Veränderungen ihrer Gesundheitswerte. Hier ließen sich noch viele weitere Forschungen anführen, die alle zu demselben Schluss kommen: Der Aufenthalt in und die Begegnung mit der Natur machen uns ruhiger, gelassener und stärken das Immunsystem. Dem gegenüber steht jedoch eine andere wahrgenommene Wirklichkeit: Die Natur stresst uns! Pflanzen kratzen, brennen und lösen Allergien aus, Tiere stechen, beißen und übertragen Krankheiten.

Was ist hier im Laufe unserer zivilisatorischen Entwicklung schiefgelaufen? Vor allem in den letzten hundert Jahren gab es durch immer effizientere Gifte, Fallen und auch durch Unkenntnis mancher Folgen einen bis zur Ausrottung führenden Kampf gegen andere Lebewesen, die uns über die ganze Menschheitsgeschichte hinweg begleitet hatten. Es waren nicht immer Liebesbeziehungen, vor allem nicht zu jenen Tieren, die uns selbst gefährlich werden können. Doch jetzt wenden wir uns in einer Mischung aus technischem Overkill und Ignoranz gegen Arten, die eine wesentliche Grundlage funktionierender Lebensräume und Ökosysteme sind. Mit dem Frühling tauchten früher auch zahlreiche, verschiedene Insektenarten auf. In den 1970er-Jahren haben in Öster
reich laut einer Studie noch 14 Billiarden Insekten pro Jahr ihr Leben an Windschutzscheiben beendet, was etwa 3.000 Insekten pro Pkw und Kilometer bedeutete. Wer heute mit dem Auto übers Land fährt, findet danach kaum noch Insekten auf der Windschutzscheibe, warnte letztes Jahr sogar die deutsche Bundesumweltministerin. Die Gründe sind schon lange bekannt: Zu viele Pestizide, zu wenig Lebensraum. Auch die Folgen lernt man bereits in der Volksschule anschaulich kennen: Die Nahrungsketten werden mit übereinander gestapelten Blechdosen dargestellt. Wenn man dann an der Basis eine Dose entfernt, stürzt auch der Rest meist ein. Dieser verschwindende ‚Rest‘ sind all jene Lebewesen, die sich von diesen Insekten ernähren: Fische, Reptilien, Fledermäuse und viele Vogelarten.
Und leider beteiligen sich auch immer wieder Zeitungen mit grellen Schlagzeilen an dieser medialen Stimmungsmache: Verlässlich titeln diese vor Sommerbeginn ‚Killer-Gelsen greifen an‘ oder sprechen sogar von einem ‚Angriff der Horror-Mücken‘, wenn diese die Gartenparty stören. Aus Sicht mancher Naturschützer wäre vor allem die Agroindustrie für diese großflächigen Rückgänge verantwortlich zu machen.

Der Aufenthalt in und die Begegnung mit der Natur machen uns ruhiger.

Aber fangen wir doch besser zuerst einmal bei uns selbst an: Wer mag schon Insekten? Zum Beispiel Schmetterlinge? Grundsätzlich finden wir Tagfalter schön, aber bei Motten oder den Jugendstadien, den Raupen, hört sich das Verständnis auf und das Arsenal von Insektiziden wird bedenkenlos eingesetzt. Auch hier liefert eine mittlerweile 20 Jahre alte Studie verstörende Befunde: In Böden und auf Pflanzen in privaten Hausgärten ist die Giftbelastung bis zu zehnmal so hoch wie auf landwirtschaftlichen Flächen. Gibt es überhaupt Tiere, die in ‚unsere‘ Natur eindringen dürfen? Gespräche mit Gartenbesitzern geben meist ein klares Bild der umfassenden Ablehnung: Maulwürfe zerstören den englischen Rasen, Dachse graben den Boden um, Vögel koten auf die Fensterscheiben und Marder stören die Nachtruhe. Selbst Honigbienen sind nicht willkommen, entweder reklamiert man eine entsprechende Allergie oder fürchtet, gestochen zu werden.

Nimby! Not in my backyard! So nennt man diese Geisteshaltung, die man auch schon von Diskussionen um die Einrichtung von Betreuungsstellen für Obdachlose oder Drogenkranke kennt, aber auch von Bauvorhaben wie Mülldeponien, Mobilfunkmasten und Solarkraftwerken. Die Gretchenfrage des 21. Jahrhunderts lautet: Wie hältst du es mit der Natur? Insekten sind nur grundsätzlich okay, aber offenbar nie dort, wo Menschen leben. Die meisten wollen zwar gerne ‚im Grünen‘ leben, aber dabei nicht von anderen Lebewesen belästigt werden. Ein paar Motten im Müsli – Katastrophe. Blattläuse auf den Rosen – sofortiger Gifteinsatz. Taubenkot auf dem Autodach – Abschuss fordern. Obwohl: Das mit den Vögeln erledigt sich von selbst, denn 60 Prozent der europäischen Vogelarten ernähren sich hauptsächlich von Insekten. Deswegen gibt es in Deutschland im Vergleich zu 1989 bereits um etwa 13 Millionen Vogelpaare weniger.

NaturBeziehungen aufbauen
Ich möchte aber nicht Alarmismus predigen, sondern zu Gelassenheit anleiten. Nur dann werden sich die eingangs zitierten positiven gesundheitlichen Wirkungen bei uns auch zeigen. Am besten baut man neue Beziehungen auf, wenn man sein Gegenüber genau betrachtet. Dazu sollte man sich trauen, diese – kleinen – Tiere in die Hand zu nehmen.
Dazu braucht es nur etwas Wissen über deren Lebensweise und Verhalten und anfänglich ein kleines bisschen Überwindung, um eine neue Erfahrung zu machen. Beginnen wir mit den Sympathieträgern unter den Insekten, den Schmetterlingen. In Österreich gibt es etwa 4.000 verschiedene Schmetterlingsarten, aber nur 215 davon sind die beliebten Tagfalter. Diese erkennt man nicht nur an ihren farbenfrohen Flügeln, sondern auch daran, dass sie diese in Ruheposition über dem Rücken aufstellen, so dass man die Flügelunterseite sieht. Das hilft uns dabei, sie anzufassen.
Fälschlicherweise erklären viele Eltern ihren Kindern, dass man Schmetterlinge nicht berühren darf, weil diese dann den ‚Staub‘ von den Flügeln verlieren und sterben würden. Dies stimmt so nicht. Schmetterlinge können lange Strecken fliegen, überleben Vogelattacken und Stürme. Daher halten sie es auch aus, wenn man sie an den hochgeklappten Flügeln mit zartem Druck anfasst. Die Brust und den Hinterleib sollte man aber nie angreifen. Zur genaueren Betrachtung hält man sie dann unter ein umgedrehtes Glas. 

Ein sehr sinnliches Erlebnis bieten Mistkäfer. Ihren abwertenden Namen verdanken sie dem Umstand, dass sie für ihre Brut den Dung von Pflanzenfressern zu Kugeln verarbeiten und auf diese in unterirdischen Kammern je ein Ei darauflegen. Hat man einen Käfer gefunden, nimmt man diesen in die Hand und schließt um ihn herum die Faust. Hält man diese ans Ohr, dann kann man seine Rufe hören, die er durch Reiben einer speziellen Beinkante am Brustpanzer erzeugt. Die Hand bleibt weiterhin geschlossen. Der Mistkäfer sucht sich nun energisch einen Weg zwischen den Fingern ins Freie. Unnachgiebig presst er sich so lange mit seinem Panzer wie ein Rammbock gegen die weichen Teile der Finger, bis er plötzlich wieder außen auf der Faust sitzt. Das Ganze tut überhaupt nicht weh, ist aber ein unvergleichliches sensorisches Ereignis, besonders dann, wenn man währenddessen die Augen schließt.
Eine weitere Stufe der Gelassenheitsübungen im Umgang mit der Tierwelt ist der Kontakt mit Amphibien wie Frösche und Kröten. Diese zahnlosen Wesen beißen nicht, aber man sollte sie nicht zu lange in der hohlen Hand halten, da sie als wechselwarme Tiere schnell Probleme durch Überhitzung bekommen. Damit sie sich mit ihrer glitschigen Haut nicht entwinden, hält man sie am besten am Hinterleib und umfasst dabei ihre in die Länge gestreckten Beine. Beim Blick in ihre wunderschönen Pupillen sieht man die Mundatmung. Wo ist das Trommelfell? Und dann zurück ins Wasser. Eine Begegnung, die man nicht vergisst.
Gelassenheit ist eine innere Einstellung und die Fähigkeit, in neuen Situationen unvoreingenommen und ohne Stress zu handeln. Üben wir dies und reagieren wir mit Besonnenheit, also dem rationalen Aspekt innerer Ruhe, wenn wir im Alltag anderen Lebewesen begegnen. Und wir werden gesund leben.

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Illustration © Francesco Ciccolella

Dr. Peter Iwaniewicz

Dr. Peter Iwaniewicz

Peter Iwaniewicz ist Biologe, Journalist und Kulturökologe. Er unterrichtet an der Universität Wien Wissenschaftskommunikation und ist Autor zahlreicher Bücher.
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