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Leben

Entscheidungsträger müssen die Weichen für ethisch verantwortungsvolles Wirtschaften stellen, so dass Mitgefühl, Nachhaltigkeit und menschenwürdige Arbeitsbedingungen einen deutlich höheren Stellenwert haben als kurzfristiger Gewinn.

Vor einigen Jahren reiste ich in die USA, um an einem Zen-Retreat teilzunehmen. Im Flugzeug nach Denver saß auf dem Platz neben mir ein etwa 30-jähriger Mann, leger gekleidet in T-Shirt und Trainingshose, der mich freundlich begrüßte. Gleich nach dem Start vertiefte er sich in das umfangreiche Filmprogramm an Bord. Ich fand, mit diesem ruhigen Nachbarn hatte ich es auf dem zehnstündigen Flug in der beengten Holzklasse gut getroffen. Also entspannte ich mich und schloss die Augen.

Der respektvolle Umgang miteinander ist der am meisten vernachlässigte Grundwert unserer Weltgemeinschaft.

Auf den sorglosen, halb bewussten Zustand folgte ein jähes Erwachen, als kurz nach der Landung eine beunruhigende Durchsage zu hören war. Auf Anweisung des FBI dürfe keiner das Flugzeug verlassen. Alle Passagiere müssten auf ihren Plätzen bleiben. Wenig später betraten vier große, bewaffnete Männer in Uniform den Kabinenraum. Sie gingen zielstrebig durch die Gänge, kamen direkt auf mich zu und blieben unmittelbar vor unserer Reihe stehen. Ich hielt den Atem an und versuchte, mich unsichtbar zu machen. „Mister Collins?“, fragte eine strenge Stimme über meinem Kopf. „Yes, Sir“, antwortete der Mann, der stundenlang neben mir gesessen hatte. Er wurde umgehend verhaftet und aus dem Flugzeug abgeführt. Bestürzt und sprachlos schaute ich ihm nach. Ich war perplex. Freilich habe ich nie erfahren, wofür sich Mister Collins, der in Wahrheit natürlich anders heißt, zu verantworten hatte. Musste er ins Gefängnis? War er Dieb, Bankrotteur, Menschenhändler oder Krimineller im Darknet? Oder war er vielleicht ein Betrüger, der mit gefälschten Umweltzertifikaten Millionen gemacht hatte? Ähnlich wie ihm muss es dem deutschen VW-Manager Oliver S. gegangen sein, als er wegen seiner Verwicklungen in die Abgas-Betrügereien im Januar 2017 am Flughafen von Miami überraschend vom FBI verhaftet worden ist und seitdem die strafrechtliche Verantwortung für sein Handeln tragen muss.

Wann trifft uns Verantwortung? Wovon hängt sie ab? In gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht hängt die Verantwortung für unser Tun und Lassen davon ab, ob wir die Folgen unseres Handelns vorhersehen können, ob wir sie wollen (oder jedenfalls in Kauf nehmen) und ob wir tatsächlich in irgendeiner Weise die Möglichkeit haben, Einfluss zu nehmen. Folgenabschätzungen und Risikoberechnungen waren schon immer Teil verantwortungsbewusster Überlegungen und Strategien.

Dennoch ist die Welt in einen Zustand geraten, der besorgniserregend ist. Sie ist inzwischen überfüllt mit voraussagbarem Leid, das auf wirtschaftlichen und politischen Fehlentscheidungen – und ja, auch auf der Verantwortungslosigkeit einzelner Entscheidungsträger – beruht. Oft wird einfach nicht gründlich genug überlegt, welche Faktoren in die Folgenabschätzungen unseres Handelns einfließen sollen. Wie ernst nehmen wir noch das Leid der anderen als mögliche Folge unseres eigenen Handelns, wenn wir Aussicht auf einen beachtlichen finanziellen Gewinn oder Zuwachs an Status und Prestige haben?

Der respektvolle Umgang miteinander ist der am meisten vernachlässigte Grundwert unserer Weltgemeinschaft. Doch Arbeits- und Wirtschaftsprozesse lassen sich nur dann würdevoll gestalten, wenn wir ein sensibles Bewusstsein für die Auswirkungen unseres Handelns kultivieren, das nicht nur von der eigenen Perspektive ausgeht, sondern ebenso die Sicht der anderen Beteiligten ernsthaft berücksichtigen kann. Wer sich in Achtsamkeit übt, ist auf einem guten Weg. Nur, dass es eben nicht mehr um einen Body-Scan oder eine Übung mit Rosinen geht. Vielmehr versucht man, das Feld der Achtsamkeit und des Einfühlungsvermögens immer mehr zu erweitern – in die komplexen Zusammenhänge der Welt, der Arbeit und die unterschiedlichen Dimensionen der Zeit: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

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Welche Motive leiten unsere individuellen und kollektiven Entscheidungen darüber, was wir produzieren und wie wir arbeiten und Handel treiben wollen? Halten wir Kooperation und Wertschätzung in Arbeits- und Wirtschaftsprozessen für unverzichtbar und lassen uns von diesen Werten leiten? Oder werden unsere Entscheidungen doch häufiger von egoistischen Motiven und Rücksichtslosigkeit motiviert – nach dem Motto: Jeder ist sich selbst am nächsten? Die entsprechenden Folgen müssen wir früher oder später verantworten. Hier gilt es, Bewusstsein zu entwickeln und aus unserem bequemen Halbschlaf aufzuwachen.

Schauen wir nur auf die erbarmungslosen Unternehmungen zur Ausbeutung der Bodenschätze weltweit. Die rücksichtslose Gier und die repressiven Machtinteressen der beteiligten Länder und Konzerne verursachen ein unüberschaubares Maß an Leid: Öl- und chemikalienverseuchte Gebiete bleiben geplündert zurück, unzählige Menschen und Tiere werden krank und das Ökosystem ist an vielen Orten aus dem Gleichgewicht geraten. Solche Investitionsentscheidungen von wenigen unbesonnenen und zu ruppigen Managern beruhen auf einem Mangel an ethischem Verantwortungsbewusstsein. Sie leugnen schlicht das voraussagbare Leid oder nehmen die Schäden sogar in Kauf, was nur möglich ist, wenn man sich nicht zu lange mit Gefühlen aufhält.

Verantwortung definiert der Duden als ‚Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass (innerhalb eines bestimmten Rahmens) alles einen möglichst guten Verlauf nimmt, das jeweils Notwendige und Richtige getan wird und möglichst kein Schaden entsteht‘. Verantwortlich zu handeln bedeutet also auch, sich von der Idee der Fürsorglichkeit, im Englischen ‚Care‘, leiten zu lassen.

Noch leben wir in einer leistungs- und angstorientierten Gesellschaft, in der es immer mehr Menschen gibt, die an Burnout leiden. Wie prägt diese Leistungsdominanz, die viele Menschen über das Maß verinnerlicht haben, unsere Persönlichkeit und unseren Lebenslauf? Wem dient sie eigentlich? Wo bleibt das kostbare menschliche Potenzial jedes Einzelnen, der sich danach sehnt, sich voll zu entfalten? Ein glückliches Leben kommt nicht nur durch eine 40-Stunden-Woche im Büro zustande, vielmehr fühlen sich die meisten Menschen glücklich, wenn sie Sinn, Verbundenheit, Liebe und Kreativität spüren und ausleben können. Es wäre sinnvoll, wenn Arbeit auch diesem Ziel dienen könnte.
Für die Zukunft ist es von besonderer Bedeutung, dass auch Entscheidungsträger, Manager und Politiker weltweit aus echter Überzeugung die Weichen für ‚Ethical & Caring Economics‘, also für ethisch motiviertes Wirtschaften, stellen, so dass Mitgefühl, Nachhaltigkeit, der schonende Umgang mit Ressourcen und menschenwürdige Arbeitsbedingungen einen höheren Stellenwert haben als kurzfristiger Gewinn.

Ein ethischer Wertewandel in der Wirtschaft würde ebenfalls bedeuten, tiefen Respekt im Umgang mit der Natur zu entwickeln. Die Natur existiert nicht, um von Menschen ausgebeutet zu werden. Vielmehr ist unsere eigene Existenz untrennbar mit ihr verwoben. Die Tatsache der existenziellen Interdependenz wird oft vergessen oder nicht ernst genommen. Doch sie ist elementar für alle Fragen des ökonomischen Handelns.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 103: „Buddha und die Arbeit"

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Man stelle sich vor, Care und Respekt würden tatsächlich wichtige Parameter für das wirtschaftliche Handeln. Jede potenzielle Führungskraft würde im Assessment Center darauf überprüft, welches Maß an Mitgefühl und Fähigkeit zum Perspektivwechsel sie aufbringt. Wie würde sich in wenigen Jahren unsere Arbeitswelt verändern? Sicherlich beträchtlich. Diese Vision beruht auf der Erkenntnis, dass wirklich niemand leiden will und deshalb für alle Lebewesen bestmöglich zu sorgen ist.

Das alte Denken in den Kategorien von Beherrschung, Ausbeutung und von Gewinnmaximierung als oberste Maxime muss sich wandeln in ein neues, kooperatives Denken, das Gemeinsinn, Verantwortung, Kreativität und Mitgefühl in den Mittelpunkt stellt.

Sie fordert schon fast einen Quantensprung in unserem Bewusstsein. Das alte Denken in den Kategorien von Beherrschung, Ausbeutung und von Gewinnmaximierung als oberste Maxime muss und kann sich wandeln in ein neues, kooperatives Denken, das Gemeinsinn, Verantwortung, Kreativität und Mitgefühl in den Mittelpunkt stellt. Denn Menschen müssen durch wirtschaftliches Handeln nicht nur in die Lage gebracht werden zu überleben, sondern ihr volles Potenzial zu entfalten und ein waches, erfülltes Leben zu führen. Mit weniger sollten wir uns nicht zufriedengeben.

Tineke Osterloh lebt in Hamburg und unterrichtet seit mehr als 15 Jahren buddhistische Meditation und Weisheitslehren. Sie hat übers 25 Jahre Vipassana-, Metta-, und Zen-Meditation praktiziert und hat in dieser Zeit vier Jahre in buddhistischen Meditationshäusern in England und Südafrika gelebt. Tineke ist Coach, Buchautorin und war Mitglied im Team des “ReSource” Projekts zur neurowissenschaftlichen Erforschung von „Mitgefühl“ (Prof. Tania Singer, Max-Planck Institut für Kognitions- u. Neurowissenschaften in Leipzig und Berlin).
Auch in ihrem Blog beschäftigt sie sich mit den zahlreichen Chancen und Tücken rund um das Thema „Mitgefühl“.
Tipp zur Vertiefung: Tineke Osterloh, ‚Stark im Wandel – Lebensveränderungen annehmen und aktiv gestalten‘, GU Verlag 2017.

 

Illustration © Francesco Ciccolella

Bilder Illustration © Unsplash

Tineke Osterloh

Tineke Osterloh

Tineke Osterloh lebt in Hamburg und unterrichtet seit mehr als 15 Jahren buddhistische Meditation und Weisheitslehren. Sie hat übers 25 Jahre Vipassana-, Metta-, und Zen-Meditation praktiziert und hat in dieser Zeit vier Jahre in buddhistischen Meditationshäusern in England und Südafrika gelebt. ...
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