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Leben

In jeder Familie gibt es immer wieder Konfliktpotenzial. Die Kinderpsychiaterin Dina Ghanim über Achtsamkeit und Respekt im Streit. 

Vater, Mutter, Kinder: Da kommt es immer wieder zu Streit. Wie soll man damit umgehen?
Ich denke, es kommt vor allem auf das Klima in der Familie an. Wenn jeder seine eigenen Bedürfnisse und Grenzen kennt, also so etwas wie einen inneren Frieden gefunden hat, sind Konflikte nicht per se etwas Schlimmes. Innerer Frieden kann nur entstehen, wenn wir mit uns selbst gut klarkommen. Dafür sollten wir unsere Schwächen und Stärken gut kennen sowie uns mit unserer eigenen Vergangenheit auseinandergesetzt haben. Wir sollten uns nicht nur arrangieren, sondern uns wirklich mit uns selbst anfreunden.


Was meinen Sie mit anfreunden?
Sich selbst und damit die eigenen Bedürfnisse kennen, ein Stück weit wissen, wie und warum man so geworden ist, und sich akzeptieren. Oft ist es ein langer Weg, die inneren Wünsche herauszufinden. Wer diesen Prozess hinter sich hat, sollte dann auch dementsprechend handeln. Auch das ist nicht einfach. Wer die eigenen Bedürfnisse ignoriert, bleibt unzufrieden.

Kommen Kinder eigentlich friedlich auf die Welt?
Kinder können durchaus mit einem inneren Frieden auf die Welt kommen. Kleine Babys können in sich ruhen, wenn sie gute Voraussetzungen erlebt haben. Im Mutterleib bekommen Babys sehr viel mit. Da gibt es natürlich auch Kinder, bei denen es durch äußere Belastungen des Umfeldes oder von den genetischen Voraussetzungen her schwierig ist. Auch der Verlauf der Geburt hat Einfluss: Schwierigkeiten bei der Geburt oder in der Schwangerschaft lösen Stress aus und es kann sein, dass das Baby dann erst mal eine verlängerte Anpassungsphase braucht, um auf der Welt anzukommen.

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Welche Grundeinstellung ist wichtig?
Ich kenne Kinder, die gute Ressourcen mitbringen und gut aufwachsen. Sie werden von ihren Eltern
unterstützt und es wird von ihnen nicht erwartet, dass sie anders sein müssen, als sie sind. Jeder Mensch ist, wie er ist. Es ist wichtig, das zu akzeptieren. Es ist wichtig, die Grenzen der Kinder zu akzeptieren, ihnen aber immer auch die eigenen Grenzen authentisch zu vermitteln. Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, schaffen es die meisten Kinder gut ins Erwachsenenalter.

Welche Perioden einer Kindheit sind entscheidend?
Jede Zeit ist wichtig, Kinder brauchen am Anfang Zeit, sich an die Welt zu gewöhnen. Die Eltern sollten versuchen, diesen neuen, kleinen Menschen kennenzulernen, und ihre Erwartungen ein Stück hintanstellen. Die Einstellung der Eltern, ein Baby von Anfang an nach den eigenen Vorstellungen formen zu wollen, ist wenig förderlich. Kinder wissen gut, was sie brauchen und wo ihre Grenzen liegen. Diese Fähigkeiten werden ihnen oft im Laufe der Zeit aberzogen. Der Erwachsene hat die Verantwortung, er muss versuchen, das Kind zu verstehen, auf das Kind einzugehen.

Worauf sollte in der Erziehung Wert gelegt werden?
Ich glaube nicht an Erziehung, es geht vielmehr um Beziehung. Kindern zu sagen, es gäbe einen ‚richtigen‘ Weg, empfinde ich nicht als gut. Früher erzog man die Kinder, dann kam die Phase, wo man sagte, man muss den Kindern ein Vorbild sein. Ich sehe es mehr als ein Miteinander. Kinder lernen sich und den anderen in der Beziehung zueinander kennen. Und auch wir entwickeln uns mit unseren Kindern ständig weiter, in dem Sinne erziehen auch sie uns. Es geht darum, das Kind in jedem Moment spüren zu lassen, dass es genauso akzeptiert wird, wie es ist, mit seinen Grenzen und Bedürfnissen. Dazwischen muss man sich viel aushandeln, ähnlich wie in einer erwachsenen Partnerschaft.

Was tun, wenn das eigene Kind in eine Schieflage gerät?
Miteinander reden ist immer eine gute Idee. Die meisten Kinder wissen ziemlich genau, was nicht stimmt. Die Eltern sollten die Meinung des Kindes respektieren und signalisieren, dass sie die Bedürfnisse des Kindes ernst nehmen. Das bestärkt die Kinder in ihren Fähigkeiten, baut Ressourcen auf. Wenn es einem Kind gerade nicht so gut geht, ist es hilfreich, sich auf positive Aspekte zu konzentrieren. Etwa: Was kann mein Kind gut? Oder: Wo kann mein Kind gestärkt werden? Manchmal ist es nicht förderlich, ständig den Problembereich zu fokussieren. Viele Schwierigkeiten sind vorübergehender Natur. Wenn es zwischen Eltern und Kindern schiefläuft, ist es gut, sich frühzeitig professionelle Hilfe zu holen. Wenn die Situation noch nicht verfahren ist, kann manchmal in wenigen Sitzungen das Gleichgewicht wieder hergestellt werden.

Haben Konflikte auch positive Seiten?
Unter Streit versteht jeder etwas anderes. Wenn ein Konflikt in einem konstruktiven Rahmen ablaufen soll, sollten alle Beteiligten auf die jeweiligen Grenzen der anderen achten. Wenn diese sehr feine Linie des gegenseitigen Respekts eingehalten wird, kann Streit positive Seiten haben.

Wann wird ein Streit ernst?
Jeder Mensch hat andere Bedürfnisse. Schwierig ist es, wenn zwei Menschen aufeinandertreffen, bei denen die persönlichen Grenzen vollkommen anders liegen. Ich glaube, dass es die heile Familie in der Vorstellung eines ausschließlich glücklichen Beisammenseins nicht gibt. Die Familienmitglieder stehen zueinander in Beziehung. Ohne Reibungen geht das nicht.

Streiten Menschen, die den inneren Frieden gefunden haben, anders?
Ja sicherlich, denn wer inneren Frieden hat, spürt seine Emotionen und kann diese auch lenken. Es ist ganz wichtig bei einem Streit, nicht mit der vollen Emotion aufeinanderzuprallen. Eher sollte man die Wut erst einmal wahrnehmen und sich fragen: Was will mir dieses Gefühl sagen? Hat diese Wut mit der jetzigen Situation zu tun? Wer sich gut kennt, kann den Ursprung der eigenen Wut identifizieren. Das entschärft die Situation sehr schnell und eröffnet einen neuen Handlungsspielraum.

Wie lassen sich spontane Reaktionen zügeln?
Jeder Mensch hat eine Art Schale um das eigene Selbst aufgebaut. Sie schützt das Selbst vor Angriffen, Erwartungen anderer und vor Konventionen. Es ist harte Arbeit, diese Schale zu lösen. Doch darunter verbergen sich viele Schichten. Dieses Selbst zu kennen macht Sinn, denn man versteht die eigenen Reaktionen besser.

Und wenn man diese Seiten seiner selbst kennt?
Dann lassen sich alte, destruktive Beziehungsmuster auflösen. Bei Erwachsenen sind diese Muster oft sehr festgefahren. Der Weg zum inneren Frieden ist ein langer, emotionaler Prozess. Für den inneren Frieden habe ich für mich das Bild einer alten Waage gefunden. Ziel ist, dass beide Schalen im Gleichgewicht stehen bzw. die Auslenkungen in beide Richtungen sich in Grenzen halten, nicht mehr so heftig ausfallen. Man sollte also in seine Mitte kommen.

Was kann diesen Prozess unterstützen?
Achtsamkeitstechniken. Das können Körperübungen, Meditation, bewusstes Atmen oder Yoga sein. Sie helfen, einen Umgang mit den eigenen Emotionen zu finden, nicht jedes Gefühl muss sofort hinausgelassen werden, man kann es auch bei sich behalten. Jeder Mensch muss finden, was zu ihm passt und ihm guttut. Für mich war die Psychotherapie wichtig.

Inwiefern?
Weil die Psychotherapie einen geschützten Raum bietet, in dem einem der Therapeut vollkommen wohlgesonnen gegenübersteht. Das macht es möglich, sich zu öffnen und eigene Muster zu erkennen. Viele Menschen haben Angst vor einer Therapie. Doch es ist eine tolle Sache. Jeder Mensch sollte die Chance bekommen, über seine Beziehungsmuster nachzudenken.

Haben Sie selbst den inneren Frieden schon gefunden?
Nein, noch nicht, aber ich bin auf einem guten Weg. Die Waage ist ziemlich in der Balance und schlägt nur mehr ab und zu aus. Das fühlt sich gut an. 

Dr. Dina Ghanim, geboren 1975, ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapeutin.

 
Foto © Michael Nagl

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Ester Platzer

Ester Platzer

Ester Platzer, 1979, lebt in Wien und ist Mitglied der Chefredaktion bei Ursache\Wirkung. Davor lebte und arbeitete sie viele Jahre in Ostafrika. Ester absolvierte ihr Magisterstudium in internationaler Entwicklung an der Universität Wien.
Kommentare  
# Lara Mayr 2019-04-02 09:55
Sehr interessanter Artikel, bin mir nicht sicher ob ich 100% damit übereinstimme...
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