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Leben

Sollen wir es abschaffen oder sein lassen? Alle Menschen leiden. Trotzdem möchte keiner aussehen wie ein Leidender. Deshalb tun viele Menschen so, als würden sie nicht leiden und als seien sie mehr oder weniger immer gut drauf. Sieht man näher hin, merkt man jedoch, dass auch sie leiden.

Aber warum? Auf diese Frage aller Fragen glaubte der historische Buddha eine allgemeingültige Antwort gefunden zu haben: Das Begehren ist die Ursache des Leidens!

Was die Wirtschaft antreibt …
In einer Gesellschaft des Mangels, in der es tagtäglich um das schiere Überleben geht, mag es eine gute Strategie für Leidfreiheit sein, nichts mehr zu wollen. Wie aber ist das in einer Wirtschaft, die auf Konsum basiert? Wenn die Menschen bei uns aufhören würden zu begehren, würde dann nicht die ganze Wirtschaft zusammenbrechen? Beim Zusammenbruch all der Unternehmen und Institutionen, vor allem derer, die als too big to fail gelten – so wie anno 2008 die Banken –, würden vermutlich alle noch viel mehr leiden als schon jetzt, in unserer stressgetriebenen Wirtschaft, in der sich kaum einer mehr entspannt. Müsste ein heutiger Buddha nicht deshalb aus Mitgefühl sagen: „Kauft, kauft, kauft, unsere Wirtschaft braucht das!“ 

… und die Paare beglückt
Es zweifeln aber nicht nur die Wirtschaftsexperten an Buddhas genialer Diagnose des leidenden Menschen, auch die Eheberater widersetzen sich ihr. Wenn bei jahrelang einander treuen Paaren im Bett nichts mehr los ist, fallen ihnen tausend Hilfsmittel ein, das Begehren wieder zu wecken. Warum denn das? Sollten sie diese Paare nicht vielmehr beglückwünschen, dass das Begehren verschwunden ist? Oft verschwand es sogar von ganz allein, auch ohne die Mühen und Leiden ungezählter Stunden auf dem Zen-Kissen und der absolvierten Retreats plus der so oft gescheiterten Anstrengungen, den Empfehlungen des ‚Achtfachen Pfades‘ Folge zu leisten.

Wünsche bezüglich des Begehrens
Vielleicht ist es doch ein bisschen komplizierter. Auch wenn Buddhisten manchmal so aussehen, als seien sie selbst die Ursache des Leidens, und Christen, als würden sie ihrem Heiland auch im Hinblick auf sein Leiden am Kreuz nacheifern wollen: Was uns zu Leidenden macht, ist nicht die Tatsache, dass wir Menschen Bedürfnisse, Wünsche, Pläne und Zukunftsvisionen haben. 
Wir sind strebende Wesen, die mal gute, mal schlechte (= uns selbst und anderen schadende) Ziele zu erreichen begehren. Im Zustand des Begehrens scheint dem Begehrenden etwas zu fehlen, es scheint ihm an der Welt etwas falsch zu sein; es ist für ihn nicht so, wie es sein soll. Der Begehrende fühlt sich getrennt von dem, was er will, oder verhaftet mit dem, was er nicht will, und empfindet dies als schmerzlich. Wenn er nun aber zum Schmerz dieses Begehrens auch noch begehrt, dass dieses Begehren verschwinden möge, fügt er dem bestehenden Leiden ein weiteres hinzu und hat damit sein Ziel doppelt verfehlt. Das kann es also nicht sein, was der Buddha meinte.

Reich und arm
Die Zeit des historischen Buddha war, zumindest für die oberen Kasten der damaligen Gesellschaft, eine Zeit des Überflusses an Gütern. In der Hinsicht mag die damalige Gesellschaft unserer heutigen ähneln, denn heute besitzen die Reichen mehr Reichtümer, als Menschen je zuvor zur Verfügung hatten, und auch der Mittelstand unserer Gesellschaft erlebt eine Konsumwelt mit Möglichkeiten, die es zu Buddhas Zeiten nicht einmal für Könige gab. 
Wie gehen wir heute mit unserem Begehren um? Und wie würde ein heutiger Buddha sich in dieser Gesellschaft verhalten? Würde er vegan essen, nur lokal Erzeugtes und fair Gehandeltes kaufen und würde er zu den Reichen und den Armen dasselbe sagen: „Wenn das Begehren erlischt, dann erlischt das Leiden.“ Und zu den Ökonomen sagen, sie sollen endlich damit aufhören, das unendliche Anwachsen des Konsums zu begehren – Degrowth, die Schrumpfung der Wirtschaft, wäre letzten Endes doch für alle viel besser?

Der Weg des Tantra
Neben dem Theravada, der ‚Lehre der Alten‘, und dem Zen ist die dritte der drei großen buddhistischen Richtungen die des Tantrayana, übersetzt ‚tantrisches Fahrzeug‘. Mit Fahrzeug (yana) ist hier ein Methodenpaket gemeint, das als Transportmittel einer persönlichen oder kollektiv-kulturellen geistigen Entwicklung dienen kann. Das Methodenpaket des Tantrayana ist in den Jahrhunderten des indischen Mittelalters aus dem damaligen nordindischen Mahayana-Buddhismus in die tibetische Kultur übernommen worden. Es enthält Einflüsse aus vorarischen, also auch aus vorbuddhistischen matriarchalen Elementen und fusionierte dann mit dem in Tibet einheimischen Bön-Schamanismus. Sowohl die hinduistische als auch die buddhistische Variante des tantrischen Weges hat einiges über den Umgang mit dem Begehren zu sagen. 
1. Der Umgang mit dem menschlichen Begehren ist für die persönliche spirituelle Entwicklung und Linderung oder gar Überwindung des Leidens entscheidend. 
2. Eine Ablehnung des Begehrens ist noch keine Transformation. 
3. Ein achtsamer, bewusster, akzeptierender Umgang mit dem (sexuellen und jedem anderen) Begehren kann zur Leidfreiheit führen.

„Im Geist gibt es nichts, das vom Geist verschieden wäre, darum ist es auch nicht nötig, Begierden abzutöten; ihre Natur ist leer, also verschwinden sie von selbst, wenn du ihr Auf und Ab einfach geschehen lässt."

Nioútó Faróng, Das Gedicht 'Xin Míng'

Die Vergänglichkeit betrachten
In unserer so sehr auf den Konsum ausgerichteten Wirtschaft vor einem Regal im Discounter, einer Auslage im Schaufenster oder einem Angebot im Internet erst einmal zu verweilen, ohne gierig zuzugreifen, scheint mir eine gute Praxis der Innerlichkeit zu sein. Sich des Begehrens dort bewusstzuwerden (sati), wo es auftritt. Ich glaube nicht, dass ein heutiger Buddha unsere Konsumtempel würde zerstören wollen, so wie von Jesus überliefert ist, dass er die Händler aus der Kultstätte seiner Herkunftsreligion vertrieben habe. Unsere heutigen Konsumtempel könnten Stätten der Übung von Achtsamkeit sein, so wie das Meditationsmuseum gegenüber dem Kloster in Bangkok (Wat Bovorn), in dem ich 1976 Mönch war, wo verwesende und von Unfällen entstellte Körper gezeigt wurden, um sich in die Betrachtung der Vergänglichkeit zu versenken. Das können auch unsere Konsumwelten mit ihren Modeerscheinungen leisten, wo die Phänomene so schnell kommen und vergehen wie verwesende Körper. Was gestern noch der letzte Schick war, ist heute schon Sperrmüll, oft – als planned obsolescence – mit eingebautem Verfallsdatum nicht nur bei Glühbirnen, sondern auch bei Möbeln, Werkzeugen, Computern, Autos. 

Tun statt Reden
Unsere Warenwelten und die in blinder Gier auf den Öko-Kollaps zusteuernden Gesellschaften scheinen mir geradezu von buddhistischen Pädagogen entworfene Meditationsmuseen zu sein, in denen wir uns in die Betrachtung der Vergänglichkeit versenken können. Die Kriege zeigen uns, wohin Gier und Hass führen, die Politik zeigt uns, wohin Ignoranz führt. Weisheit, Einsicht, Mitgefühl? Auch das gibt es. Vereinzelt sind Boddhisattvas unterwegs, das lässt hoffen. Ein heutiger Buddha müsste wohl mehr durch sein Tun überzeugen als durch seine – ihre? – Reden. Sutren und Predigten der Besserung haben wir schon genug gehört. Vielleicht wäre ein heutiger Buddha weiblich und sie würde aus Mitgefühl eine Stadtguerilla gründen, die in friedlicher Weise das Leben in den Monsterstädten unserer Globalzivilisation umzukrempeln beginnt – durch Konsumverzicht, Urban Gardening, vegane Ernährung und eine neue Gemeinschaftskultur.

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Bilder © unsplash

Wolf Schneider

Wolf Schneider

Wolf Sugata Schneider, ehemaliger Mönch in der buddhistischen TheravadaTradition, ist heute Autor und Humorist. www.connection.de www.bewusstseinserheiterung.info
Kommentare  
# Uwe Meisenbacher 2017-11-21 13:16
Hallo Herr Schneider,
Ihr Artikel ist ein gut gemachter Aufklärungsbeitrag auch für nicht
Buddhisten.
Buddha nannte seine Lehre den mittleren Pfad zwischen den Extremen und das aus eigener Erfahrung.
Die Praktizierung des mittleren Weges, verursacht weniger Leiden, das ist eine Weisheit, die auch in der Heutigen Zeit und in Zukunft in der Realität des Lebens wirksam ist.
Ein Leben ohne Leiden wird es realistisch gesehen nicht geben.

Mit freundlichen, aberglaubensfreien, buddhistischen Grüßen.
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