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Leben

Vielen Angestellten reicht arbeiten, um Geld zu verdienen, nicht mehr als hinreichender Sinn. Und auch Firmen fragen sich zunehmend, ob es bei ihnen nur um Profit oder um einen höheren ‚Seinszweck‘ geht.

Purpose der Person
„Ich hab’s!“ Sophia Liesen unterbricht die Runde. „Mein Symbol ist da – gerade ist es mir eingeschossen!“ Alle Köpfe drehen sich zu ihr. „Es sind Flügel!“ Die 42-Jährige strahlt und umarmt ihre Freundin, die neben ihr steht und lachend applaudiert. Auch die anderen freuen sich über die Entdeckung. Nur ein Mann in der Runde runzelt die Stirn: „Oh je! Bei mir kommt das bestimmt nicht einfach so!“ Vor ihm liegt ein blaues Pappschild, in dessen Mitte ein Kreis gemalt ist. Thorsten Felber schaut sorgenvoll auf das leere Rund.
Sophia Liesen hat sich einen Stift geschnappt und zeichnet Flügel auf ihr eigenes Schild. „Ich bin eine Beflüglerin! Ich helfe anderen, abzuheben, sich aufzuschwingen, höher zu fliegen.“ Allein diese Erkenntnis scheint die ehemalige Managerin zu beflügeln.
Gemeinsam mit elf anderen ist sie mit mir und meinem Kollegen auf einen Berg gestiegen, um der eigenen Berufung auf die Spur zu kommen. Wie Sophia wüsste auch Thorsten Felber gern, welchen besonderen Auftrag er in diesem Leben hat. Nach der zielstrebigen Karriere in einer großen Bank ist er dort angekommen, wo er immer hinwollte: Bereichsleitung, ein großes Einkommen, teurer Geschäftswagen. Nebenbei hat er eine Familie gegründet und es trotz Vollbeschäftigung und zwei Kindern geschafft, seine Ehe lebendig zu halten. Neben allen Erfolgen sei etwas leer in ihm, sagt er. „Ich habe keinen Spaß mehr im Job. Ich funktioniere, ich leiste, ich renne, aber mein Herz ist nicht erfüllt!“ Bei fast drei Millionen Arbeitslosen in Deutschland könnte man sagen, das sind Luxusprobleme. Theoretisch hat Thorsten Felber alles, doch praktisch wächst seine Unzufriedenheit. Immer häufiger liegt er mit Halsentzündung im Bett. Wenn morgens der Wecker klingelt, habe er keine Lust aufzustehen, erzählt der Top-Manager. Vorstandssitzungen seien wie Schreckgespenster in seinem Kalender. Noch vor zehn Jahren wäre er begeistert dabei gewesen, hätte das Wort geführt, mitgemacht, mitgedacht – weil er die Bank weiterbringen wollte, Ziele erreichen, Umsatz steigern. Irgendwann habe sich das verändert. „Es ist mir egal geworden, welche Zahlen wir erreichen oder was die Aktionäre absahnen. Ich fühle mich wie ein Rad im Riesengetriebe. Wenn ich jetzt sterbe, was hätte ich dann hinterlassen? Nichts!“ Der studierte Wirtschaftsökonom liegt oft nachts wach, während die Gedanken kreisen: „Was könnte ich tun? Was macht mir Spaß?“ Doch sofort kommt das innere Veto und die Angst: „Wie soll ich den Lebensstandard für meine Familie halten, wenn ich den sicheren Job aufgebe?“

„Die Angst vor finanzieller Unsicherheit und vor Ungewissheit des Neuen lähmt Menschen.“

Wie Thorsten Felber geht es den meisten Teilnehmenden in der Runde. Vor allem Männer wagen kaum die Idee, aus dem beruflichen Alltag auszubrechen. Die Angst vor finanzieller Unsicherheit und vor der Ungewissheit des Neuen lähmt Menschen, auch wenn sie schon lange unter ihrer Situation leiden. „Ja, aber ...“ ist die erste Reaktion auf jede Alternatividee zum aktuellen Job.
Sophia Liesen ist da eine Ausnahme. Die alleinerziehende Mutter hat gerade ihren Führungsposten in der Verwaltung eines Krankenhauses gekündigt. „Einfach so! Ich bin morgens aufgewacht und wusste: Ich muss da raus! Noch am gleichen Tag habe ich meinem Chef gesagt, dass ich gehe, ohne zu wissen, wohin.“ Sorgen mache sie sich nicht. „Das kommt schon! Ich muss nur meinem Herz folgen – das hat mich noch immer geführt.“
Ihre Freundin hat sie spontan zu meinem Workshop mitgenommen.
Sophia Liesen lacht, glücklich über ihre Entscheidung. „Als Beflüglerin hätte ich mir in der Verwaltung langfristig die Flügel abgeklemmt.“
(Fortsetzung folgt …)

Purpose der Organisation
Raphael Wiberger hat seinen persönlichen Purpose schon lang entdeckt. Der 28-jährige Berliner Unternehmer hat vor vier Jahren ein Start-up gegründet. Mit zwei Freunden arbeitet er am Thema der neuronalen Netze. Sie wollen damit den Handel revolutionieren: Was wird möglich, wenn Kunden vollständig in ihrem Verhalten verstanden werden? Der eigene Purpose war Wiberger schnell klar: „Ich bin ein Verbinder, ich knüpfe Fäden und Netze, damit Menschen in Kontakt kommen.“
Was die drei Gründer jetzt beschäftigt, ist der Purpose ihrer Firma. Was ist der einzigartige Beitrag des Unternehmens für die Welt? „Wachsen und Gewinn machen allein ist es nicht. Ich fühle mich verantwortlich, mit unserer Firma auch gesellschaftlich einen Beitrag zu leisten.“ Raphael Wiberger klingt entschieden. Aus seiner Sicht sollten nicht nur Anteilseigner vom Gewinn profitieren, schließlich verbrauche seine Firma Gemeingüter wie Energie, Wasser, Raum und Zeit. Wiberger erzählt, dass junge Talente schon im ersten Gespräch mit ihm als potenziellem neuem Arbeitgeber fragen, welcher größere Sinn die Leute im Start-up treibt. Viele machten davon ihre Entscheidung abhängig. „Ich selbst denke ja auch so, seit ich meinen Purpose kenne. Ich frage mich sehr genau, welche Umgebung mich darin unterstützt. Als ‚Verbinder‘ in einem traditionellen Konzern mit Einzelbüros und Silodenken wäre ich ziemlich fehl am Platz. Ich würde vielleicht ihnen guttun, aber sie mir nicht.“

Die drei jungen Leute sitzen mit mir zusammen, um den Purpose ihrer Firma herauszuschälen. Wir haben uns an einen Ort in der Natur zurückgezogen. In vier Tagen dringen die Entrepreneure wie durch Zwiebelschalen zum Purpose ihrer Firma vor. Sie versprechen sich viel davon, seit ich sie auf eine Learning Journey zu Unternehmen mitgenommen habe, die einen starken Purpose nutzen. Wenn zum Beispiel alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen, dass es darum geht, ‚die geilste Software für den Kunden zu entwickeln‘, spornt das nicht nur an, sondern ist Richtschnur für jede Entscheidung, die ansteht. Die Crew dieses Softwareunternehmens, das ich den Start-up-Gründern gezeigt habe, richtet Entscheidungen einzig daran aus, ob sie der Erfüllung ihres Purpose dienen. Die Geschäftsführer haben ihre Mitarbeiter sogar mit mir auf den Berg geschickt. Ihnen war wichtig, dass jede/r weiß, was er oder sie persönlich in die Welt bringen will, und sich gut überlegt, ob er oder sie das in ihrer Firma kann. So stellen sie sicher, dass alle in der Firma mit ganzem Herzen bei der Sache sind. Wer den gemeinsamen Purpose nicht teilt, geht meist von selbst.

Eine Organisation für Klinik-Clowns hat ihren Purpose ‚Lachen zu kranken Menschen bringen‘ jüngst erweitert. „Wir gehen schon lang über die Krankenhäuser hinaus! Wir arbeiten an der Vision, mit der weltweiten Krise kreativ umzugehen.“ Das war, was die Geschäftsführerin damals beschäftigt hat. Die Clowns arbeiteten bereits mit Flüchtlingen rund um die Welt, mit alten Menschen und Randgruppen. Der Purpose, der daraus entstand: „Wir bringen Enchantment in die Gesellschaft.“ Eine Mitarbeiterin strahlte nach der Quest übers ganze Gesicht: „Es ist doch genial, an einem so großen Vorhaben mitzuarbeiten!“
Raphael Wiberger war damals tief beeindruckt: „So einen Spirit will ich bei uns!“
Am vierten Morgen, noch vor Sonnenaufgang, ist der Satz des Unternehmens da: „Enable best decisions.“ Die drei Gründer jubeln vor Freude und wollen trotz dunkler Augenringe nicht schlafen gehen. „Wow! Das lag so nah und trotzdem konnten wir es nie in Worte fassen!“
Den kommenden Tag nutzen wir, um diesen Leitsatz in Konkretes zu übersetzen: Welche Strategie leitet sich daraus ab? Welche Rollen braucht die Firma, um diesen Purpose zu erfüllen? Wie müssen dafür Prozesse, wie etwa Recruiting, angepasst werden? Und wie gelingt es, die 34 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitzunehmen, die hier nicht dabei waren. Wiberger und seine Partner können es kaum erwarten, den Purpose in die Firma zu tragen.

„Sein Purpose kam ihm in der Nacht unterm Sternenhimmel."

Purpose der Person
Am Ende des Workshops auf dem Berg ist aus der Managerin eine Forscherin geworden. Sophia Liesen hat beschlossen, eine Dissertation zur Frage menschlicher Motivation zu machen. Die Wunsch-Uni kennt sie schon, am dritten Workshoptag hat sie die Finanzierung und Meilensteine ihrer nächsten drei Jahre skizziert. Neben der Forschung will sie in der Lehre antriebslose Studenten ermuntern. Wie mit Flügeln ist die 42-Jährige den Berg hinuntergeschwebt.
Thorsten Felber war festeren Schrittes unterwegs. Sein Purpose kam ihm in der Nacht unterm Sternenhimmel. „Nachhaltig Neues ermöglichen.“ Die Frage, ob das in seiner Bank geht, hielt ihn bis zum Morgengrauen wach. Der Plan, mit dem er jetzt in seinen Alltag zurückkehrt, stimmt ihn zuversichtlich. Er will ein Pilotprojekt starten, unterstützt vom Stiftungsfonds seiner Bank. Als kleinen Samen in dem traditionellen Finanzhaus will er eine Sozialbank aufbauen, in der nachhaltige Geldwirtschaft erprobt wird. Dafür wird er sich 30 Prozent seiner Arbeitszeit unbezahlt freinehmen. Die SMS an den Vorstandsvorsitzenden hat Felber gleich geschickt: „Wir müssen reden!“ Überrascht von seiner eigenen Courage verabschiedet er sich von uns. „Ich hätte nicht gedacht, dass das in drei Tagen möglich ist. Aber zum ersten Mal in meinem Leben fühlt sich eine berufliche Entscheidung zu 100 Prozent richtig an.“

Hedge Hog Modell (J. Collins)
In der Schnittmenge der drei Kreise findet man den Purpose einer Organisation oder Person.

Eine hilfreiche Darstellung zum Thema Purpose ist das Hedge Hog Modell nach Jim Collins. Es beschreibt den Purpose als Schnittmenge aus Leidenschaft, Exzellenz und Austausch. Dort wo die Begeisterung, die Kompetenz und der Kundenwunsch zusammenkommen, kristallisiert sich der ‚einzigartige Beitrag‘ einer Organisation oder einer Person.

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Franziska Fink

Franziska Fink

Franziska Fink, ist systemische Organisationsberaterin (Beratergruppe Neuwaldegg) und beobachtet in ihrer Arbeit mit Unternehmen, welche Strömungen Wirtschaft und Gesellschaft kurzfristig und langfristig verändern.
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