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Leben

Der Traum vom guten Leben ist so alt wie die Menschheit. Dieser Satz, wenigstens, fällt mir als erster zu der Frage ein. Blöd nur, dass die Sätze, die einem als Erstes einfallen, oft eher falsch sind. Was genau ist das, ein gutes Leben?

Wenn gescheite Menschen bei teurem Wein und gutem Essen zusammensitzen und über essenzielle Fragen wie diese diskutieren, dann pflegen sie sich für gewöhnlich darauf zu einigen, dass das alles sehr kompliziert, schlimmer noch, sehr subjektiv ist, dass ein gutes Leben für jeden etwas anderes ist, für den einen zählt mehr der Reichtum, für den anderen mehr die inneren Werte, und überhaupt die Gesundheit, und außerdem kann man das so allgemein gar nicht sagen, denn Verallgemeinerungen sind immer falsch.

Ärgerlich nur, dass somit auch die Verallgemeinerung falsch sein muss, dass alle Verallgemeinerungen falsch seien. Wir haben es offenbar mit einer sich selbst widerlegenden Aussage zu tun.

Und wenn wir schon bei den ärgerlichen Themen sind: Wenn die Sache mit dem guten Leben für jeden etwas anderes bedeutet, dann verliert der Begriff seine Begrifflichkeit, er wird obsolet. Ein Sachverhalt, der nicht objektiv beschreibbar ist, braucht auch nicht benannt zu werden, weil er nicht kommunizierbar ist. Da aber vom guten Leben sehr oft die Rede ist, müssen wir wohl davon ausgehen, dass es irgendetwas geben muss, an dem das gute Leben erkennbar gemacht werden kann. Aber was ist das?

Sehr viele Märchenenden verwenden diese Formel des glücklichen Lebens, möglichst lange, möglichst bis ans Ende.

Bei Hänsel und Gretel heißt es am Ende der Geschichte: „Da hatten alle Sorgen ein Ende, und sie lebten in lauter Freude zusammen.“ Bei Rapunzel: „… und sie lebten noch lange glücklich und vergnügt.“ Bei Brüderchen und Schwesterchen: „… lebten glücklich zusammen bis an ihr Ende.“ Sehr viele Märchenenden verwenden diese Formel des glücklichen Lebens, möglichst lange, möglichst bis ans Ende. Das Glück besteht immer darin, dass ein Unglück, ein Dilemma, ein Problem gelöst oder beseitigt wurde, nicht selten durch Beseitigung von einer oder mehreren bösen Personen. Das Problem ist Gegenstand der Geschichte. Das Glück ist das Ende des Problems, somit auch das Ende der Geschichte. Könnte es sein, dass dieses Glück bis ans Lebensende – „und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch“ – ein wenig den Charakter des Langweiligen, jedenfalls aber des nicht weiter Erzählenswerten hat?

Aber es gibt auch andere Enden. Aschenputtel: „und waren sie also für ihre Bosheit und Falschheit mit Blindheit auf ihr Lebtag gestraft.“ Die zwölf Brüder: „Die böse Stiefmutter ward vor Gericht gestellt, und in ein Fass gesteckt, das mit siedendem Öl und giftigen Schlangen angefüllt war, und starb eines bösen Todes.“ Der Räuberbräutigam: „Da ward er und seine ganze Bande für seine Schandtaten gerichtet.“ Hier ist das Happy End die sadistische Bestrafung der Bösen. Und dann gibt es noch eine besonders pikante Variante. Herr Korbes: „Wie er aber an die Haustür kam, sprang der Mühlstein herunter und schlug ihn tot. Der Herr Korbes muss ein recht böser Mann gewesen sein.“ Hier wird die Deutung, dass der Herr Korbes, der ein böses Ende nimmt, sicher auch ein böser Mann gewesen sein muss, schnell noch nachgeliefert, bevor die Geschichte aus ist. Rasch wird im letzten Satz noch die Welt in Ordnung gebracht. (Dieser Nachsatz, dass der Herr Korbes ein böser Mann gewesen sein muss, fehlt übrigens in neueren Ausgaben der Grimm-Märchen: Hier haben offenbar Pädagogen zugeschlagen.)

Leben

Wenn also das Gute im Leben, das Lebensglück, darin besteht, dass ein Problem beseitigt und/oder ein(e) Böse(r) bestraft wird, dann muss es wohl so etwas wie eine mehr oder weniger bewusste Ordnungsvorstellung geben, eine Art Lebensentwurf, vielleicht sogar einen Weltentwurf, dessen Verwirklichung mit ‚gut‘ und dessen Störung mit ‚böse‘ konnotiert wird.

Wir können einigermaßen sicher sein, dass auch alle Menschen der Welt ihre Freude an der Zerstörung dieses Bösen haben.

Aber woher kommen solche Entwürfe? Wenn alles nur subjektiv ist und man nichts verallgemeinern darf, wie die von mir eingangs in böser Absicht zitierten gescheiten Leute meinen, dann muss wohl auch jeder Entwurf ganz individuell und subjektiv sein, jeder hat den seinen oder jede den ihren, das Gute und das Böse ist für jede(n) etwas anderes. Wenn das aber so wäre, dann würden nicht nur Grimms Märchen, sondern auch die gesamte Filmbranche nicht funktionieren. Denn genau wie im Märchen kommt auch die Lust am Anschauen der diversen James Bonds und sonstigen Helden wesentlich daher, dass die irgendwelche Bösen erledigen, meistens nebenbei als Belohnung eine schöne Frau ergattern, direkte Nachfolgerin der Märchenprinzessin. Und größere Menschenmengen kann man nur ins Kino kriegen, wenn die alle mehr oder weniger die gleiche Meinung darüber haben, wer beseitigt gehört. Daher werden im Märchen wie im Kino, um ganz sicherzugehen, die Skizzen der Bösen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht. Im Märchen sind es böse Hexen, fürchterliche Drachen oder grausige Riesen, im Kino muss der Böse mindestens die Zerstörung der ganzen Welt im Sinne haben. So können wir einigermaßen sicher sein, dass auch alle Menschen der Welt ihre Freude an der Zerstörung dieses Bösen haben – im Zeichen der Gleichberechtigung auch immer häufiger weiblich skizziert.

Könnte es also sein, dass wir, um ein gutes Leben einigermaßen abstrakt und allgemein zu beschreiben, nicht ohne die Hintergrundfolie des oder der Bösen, Einzahl oder Mehrzahl, auskommen? – Ich hoffe sehr, dass diese Schlussfolgerung falsch ist. Sollte sie nämlich richtig sein, dann würde das bedeuten, dass wir unser gutes Leben überhaupt nur deshalb so richtig als solches bezeichnen und genießen können, weil die islamistischen Terroristen bei uns noch nicht so richtig zugeschlagen haben, weil wir noch kein Flüchtlingsdasein führen müssen, weil der Weltkrieg nicht mehr tobt, weil sich die vielen Schrecklichkeiten, die uns erst ermöglichen, unser Leben als ein gutes zu bezeichnen, bei uns noch nicht im vollen Ausmaß ereignet haben.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 94: „Ein gutes Leben"

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In der jüdischen Tradition gibt es viele kleine Geschichten, die oft irrtümlich als ‚Witze‘ erzählt werden. Der Irrtum dabei ist: Es kommt nicht darauf an, dass man lacht, sondern es kommt darauf an, dass man versteht. Das Lachen ist nur Begleiterscheinung des Verstehens. In einer solchen Geschichte kommt ein armer Jude zum Rabbiner und beschwert sich: „Rebbe, du musst mir helfen. Ich halt’s nicht mehr aus. Ich hab zu Haus a Frau, die jammert den ganzen Tag. Ich hab Kinder, die schreien den ganzen Tag. Ich hab a Schwiegermutter, die weint den ganzen Tag. Ich halt’s nicht mehr aus.“ Der Rabbi sagt: „Ich kann dir helfen, aber du musst genau das tun, was ich dir sag.“ „Alles, alles mach ich, wenn du mir nur hilfst.“ „Gut“, sagt der Rabbi. „Hast du einen Hund?“ „Ja, hab ich.“ „Und wo ist der Hund?“ „Na, wo wird er sein, im Stall, bei den anderen Tieren.“ „Nimm den Hund zu dir in die Wohnung und komm in zwei Wochen wieder.“ „Aber Rebbe, wie kann ich ...“ „Du hast versprochen, du wirst tun, was ich sag, also ...“ Der arme Jude geht verzweifelt weg, kommt nach zwei Wochen noch verzweifelter zurück: „Die Kinder schreien, die Frau jammert, die Schwiegermutter weint und jetzt bellt auch noch der Hund.“ Der Rabbiner: „Hast du eine Ziege?“ „Ja, hab ich.“ „Und wo ist die Ziege?“ „Na, wo wird sie sein, im Stall ...“ „Nimm die Ziege in die Wohnung.“ Nach zwei Wochen ist der arme Jude kaum noch gehfähig, wankt zur Tür herein. „Hast du Hühner?“ – Nach weiteren zwei Wochen wird der arme Teufel von zwei Freunden gestützt, er kann nicht mehr. „Wirf den Hund, die Ziege und die Hühner hinaus und komm in zwei Wochen wieder.“ Nach zwei Wochen kommt der Jude frisch und munter und sagt: „Rebbe, jetzt kann ma leben!“

„Ich wünsche dir ein langweiliges Leben!“

Es ist schon ein Elend mit diesen Begriffen, die sich nur aus ihrem jeweiligen Gegenteil heraus definieren lassen. Ein gutes Leben ist es, wenn es nicht schlecht ist (oder nicht mehr schlecht), und ein schlechtes Leben ist es, wenn es nicht (mehr) gut ist. Die Chinesen haben das begriffen. Sie sagen zueinander: „Ich wünsche dir ein langweiliges Leben!“ Dieses, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich auch Ihnen.

Dr. Anselm Eder, geboren 1947 in Wien, hat bis 2012 als Universitätsprofessor am Institut für Soziologie mit Forschungsschwerpunkten unter anderem in den Bereichen ‚Medizinische Soziologie‘, ‚Körpersprache als Beobachtungsfeld‘ und ‚Simulation sozialer Interaktionen‘ gearbeitet. Seit 2012 macht er alles andere.

Bilder © Pixabay

Dr. Anselm Eder

Dr. Anselm Eder

Dr. Anselm Eder, geboren 1947 in Wien, hat bis 2012 als Universitätsprofessor am Institut für Soziologie mit Forschungsschwerpunkten unter anderem in den Bereichen ‚Medizinische Soziologie‘, ‚Körpersprache als Beobachtungsfeld‘ und ‚Simulation sozialer Interaktionen‘ gearbeitet. Seit ...
Kommentare  
# Peter Polzhuber 2017-02-06 08:52
Ich würde meinen, ein gutes Leben ist ein geglücktes Leben. Was wiederum impliziert, dass mein Leben Sinn macht. Ich muss zunächst herausfinden wo mein Platz im Leben ist (jeder! hat einen Platz), und dann versuchen danach zu leben. Diese Suche dauert bei jedem Menschen unterschiedlich lang. Das bedeutet jedoch nicht, dass es sich ohne Schwierigkeiten leben lässt...Schwierigkeiten sind ein wichtiger Teil unserer Lebensentwicklung. Wichtig: Dies spiegelt lediglich meine persönliche Meinung wider :-)
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