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Leben

Bietet die säkulare Ethik die einzige Chance, den momentanen religiösen Konflikten ein Ende zu setzen? Die großen Hoffnungen, die man nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit dem Ende des Kalten Kriegs weltweit verknüpfte, wurden rasch durch die Ideologie eines neuen Gegensatzes ersetzt.

Im Jahr 1996 erschien Samuel P. Huntingtons Buch ‚The Clash of Civilizations'. Darin vertrat er die These, dass der Kampf politischer Gegensätze durch einen Kampf der Kulturen ersetzt würde – Kulturen, die vornehmlich auch religiös fundiert sind. Blickt man auf die großen Konflikte der Gegenwart, so scheinen die meisten von ihnen tatsächlich einen religiösen Kern zu besitzen: In Europa haben sich Bewegungen gebildet, die das vermeintliche Vordringen des Islam verhindern wollen; im Nahen Osten stehen sich unterschiedliche Auslegungen des Koran bitter verfeindet gegenüber; in Israel bekämpfen sich orthodoxe Juden und moslemische Palästinenser; in Indien stehen fundamentalistische Hindusekten anderen Religionen feindlich gegenüber; in Sri Lanka herrscht nach einem langen Bürgerkrieg ein unsicherer Frieden zwischen Buddhisten und Shivaiten und in Myanmar kämpfen Buddhisten und Moslems gegeneinander. Nun scheint immerhin nach dem Zweiten Weltkrieg in Dokumenten der UNO – besonders der Menschrechtserklärung – ein Katalog gemeinsamer Werte international anerkannt zu werden. Doch dieser Eindruck lässt sich nur teilweise bestätigen. Erstens werden die darin formulierten Werte von wichtigen Ländern nicht akzeptiert und zudem teilweise mit Füßen getreten. Zweitens sind in der Menschenrechtserklärung eine freie religiöse oder weltanschauliche Betätigung und Meinungsfreiheit nur als Toleranzprinzip formuliert. Eine verbindende Ethik fehlt – eine Ethik, die nicht gegen religiöse Überzeugungen formuliert wird, sondern im Gespräch mit den Religionen nach einem gemeinsamen Fundament sucht. Ohne solch eine ethische Fundierung, die Religionen und ihre Gegner wirklich ernst nimmt und damit auch Inhalte religiöser Bekenntnisse in Beziehung zur Ethik setzt, kann ein Frieden zwischen den Religionen kaum gefunden werden. Es scheinen sich hier unversöhnliche Aussagen gegenüberzustehen.

In allen Religionen haben sich deshalb Schulen der Interpretation gebildet, die auf philosophische Argumente zurückgreifen.


Es gibt nun in jüngerer Zeit zwei Projekte, die eine versöhnende Ethik aus und zwischen den Religionen zu finden hoffen: einmal das ‚Projekt Weltethos' von Hans Küng, zum anderen der Vorschlag des Dalai Lama zu einer säkularen Ethik. Ferner gibt es immer wieder Bemühungen, die Religionen trotz aller Gegensätze ins Gespräch zu bringen: auf Konferenzen, in Forschungseinrichtungen an Universitäten oder durch gemeinsame Veranstaltungen. Die Idee einer Ethik, die sich nicht unmittelbar auf eine Religion oder Weltanschauung stützt, findet durchaus weite Unterstützung. Im Tibethaus in Frankfurt am Main findet auf Anregung des Dalai Lama ein mehrjähriges Programm einer säkularen Ethik statt. Einige Grundgedanken aus diesem Programm, an dem ich beteiligt bin, möchte ich hier zusammen mit Erfahrungen aus Gesprächen mit Hans Küng, Gründer des Weltethos-Instituts, sowie von Seminaren im Weltkloster Radolfzell und auf interreligiösen Tagungen kurz skizzieren.
Wenn man eine Religion als reines Glaubenssystem betrachtet und darin bestimmte Grundaussagen dogmatisch festhält, dann ergibt sich – wenigstens auf den ersten Blick – kaum die Möglichkeit einer wenigstens gedanklichen Versöhnung mit anderen Religionen oder mit den Wissenschaften. Andererseits lehnen die modernen Atheisten sogar jegliche religiöse Aussage als bloßen Irrtum ab, weil sie nicht durch die modernen Wissenschaften gestützt seien. Und tatsächlich ist es durchaus schwierig, mit Vertretern von fundamentalistischen Auslegungen, gleich welcher Religion oder Weltanschauung, ein vernünftiges Gespräch zu führen. Fundamentalisten sind Menschen, die Aussagen aus überlieferten Texten als wörtliche Handlungsanleitungen deuten und – ohne einen weiteren Gedanken dazwischenzuschieben – sofort zur Tat übergehen.

Man kann nicht ‚einfach' glauben.


Nun hat es aber in allen Religionen immer auch Auslegungen der überlieferten Texte gegeben. Auslegungen, Interpretationen beruhen aber auf etwas anderem als einer nur tradierten (heiligen) Schrift: Sie übersetzen nicht nur den Text in ein jeweils modernes Verständnis, sie beanspruchen damit faktisch auch dessen Verständlichkeit, nicht nur von den jeweils Gläubigen. Der Versuch, ‚Ungläubige' von der je eigenen Religion zu überzeugen, setzt ja gerade voraus, dass man mit den Ungläubigen eine gemeinsame Sprache teilt und das eigene System durch Argumente erläutern kann. In allen Religionen haben sich deshalb Schulen der Interpretation gebildet, die auf philosophische Argumente zurückgreifen. Die klugen Köpfe in jeder Religion fordern dazu auf, ‚Glaubenswahrheiten' nicht einfach anzunehmen, sondern zunächst zu prüfen. Und sie verweisen hierzu meist auf Textstellen aus ihren jeweiligen heiligen Schriften. Zwei Beispiele: Der große islamische Gelehrte Avicenna (Ibn Sina) übersetzt den letzten Satz von Sure 59.2 des Koran so: „Überlegt, o ihr, die ihr Einsicht habt." Und Paulus sagt an einer bekannten Stelle im Thessalonicherbrief, 5,21: „Prüfet aber alles, und das Gute behaltet."
Man kann nicht ‚einfach' glauben. Um eine religiöse Überzeugung anzunehmen und behalten zu können, muss man fähig sein, sie im Kontext der alltäglichen Erfahrungen auch immer wieder zu prüfen. Niemand kann etwas für ihn offenkundig Widersinniges ‚glauben'. (Vielleicht sollte ich vorsichtig hinzufügen: fast niemand.) Was aber heißt das? Das bedeutet, dass alle Glaubensüberzeugungen in eine größere, weitere Sphäre des Gesprächs, des Dialogs, damit der Verständigung eingebettet sind. Selbst wissenschaftliche Aussagen beruhen immer auch auf unbeweisbaren Axiomen, die als Postulate vorausgesetzt, das heißt, geglaubt werden müssen. Auch deren Wahrheit muss sich im Diskurs rechtfertigen. Ich will nicht verschweigen, dass es die Extreme des Fundamentalismus in vielen Religionen und auch in atheistischen Systemen (wie im Stalinismus) gibt: Fundamentalisten verweigern einfach jeglichen Diskurs und wollen ihre Überzeugung notfalls mit Gewalt durchsetzen. Hier gelangt ein Pazifismus, der jeglicher an Verständigung orientierten Vernunft eigen ist, an seine Grenzen. Es sind die Grenzen für rein ethische Lösungen, und diese Grenzen muss man erkennen, ehrlich aussprechen und wohl auch akzeptieren. Moderne Rechtsstaaten versuchen dieses Problem dadurch zu lösen, dass sie Werte als Gesetze formulieren und diese Gesetze durch eine Exekutive durchsetzen – im Zweifel mit polizeilicher Gewalt. Der ethische Diskurs kann in dieser Situation nur begleitend und mäßigend wirken.

Erkenntnis ist jedem Menschen als Fähigkeit eigen.


Nun haben zu allen historischen Zeiten Vertreter verschiedener Religionen die Einbettung jeder religiösen Überzeugung in eine Gemeinschaft von Menschen erkannt und sich gerade deshalb um eine Aussöhnung zwischen den Religionen bemüht. In Europa war es Nikolaus von Kues, der für einen Frieden zwischen den Religionen eintrat. Ramon Lull plädierte an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert für einen sogar systematisch ausgearbeiteten Dialog zwischen verschiedenen religiösen Systemen durch eine neue Logik. In der Aufklärung versuchten Philosophen aus der reinen Vernunft ethische Grundsätze zu entwickeln, gelegentlich verbunden mit einer radikalen Religionskritik (wie bei Voltaire), gelegentlich mit Versuchen einer Versöhnung (wie bei Kant). All diese Versuche zeigen, dass ein rationaler Diskurs zwischen Religionen, aber auch mit Atheisten möglich ist. Man muss dazu nur das anerkennen, was als Wirklichkeit für jeden erfahrbar gegeben ist: Wir Menschen leben gemeinsam nicht nur auf einem Planeten, dessen Ressourcen wir teilen; wir sind auch durch Sprache und andere kulturelle Formen miteinander verbunden – vor allen Unterschieden, die man zweifellos immer entdecken kann.
Tatsächlich scheint mir gerade dieser Gedanke das Fundament einer neuen säkularen Ethik zu bilden. Wir erfinden kein neues System, sondern gehen von dem aus, was schon da ist: eine gemeinsame Sprache, ein faktisches Zusammenleben auf einem Planeten, die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit voneinander. Das sind keine gemeinsamen ethischen Werte. Es sind schlichte Tatsachen. Und hier – damit bringe ich eine spirituelle Überzeugung als Argument ins Spiel – hat der Buddhismus für alle anderen Denksysteme einiges anzubieten. Der Buddhismus unterscheidet sich von Glaubensreligionen durch eine andere Form der Begründung. Diese Begründung wird in der berühmten Rede des Buddha an die Kalamer am klarsten ausgesprochen. Darin sagt der Buddha zu seinen Zuhörern (ich kürze die Rede): „Geht nicht nach Glaubensüberzeugungen, nicht nach heiligen Büchern, nicht nach der Reputation von Lehrern oder nach bloßer Logik. Wenn ihr aber selber erkennt, diese oder jene Handlung ist unheilsam, dann mögt ihr sie unterlassen."

Rueckkehr zur menschlichkeit


Hier stellt der Buddha nicht nur die je eigene Einsicht über jedes religiöse oder auch wissenschaftliche Dogma. Er sagt, dass die kritische Erkenntnis einen höheren Rang einnimmt als alle sonstigen Überzeugungen. Erkenntnis ist jedem Menschen als Fähigkeit eigen. Und im Buddhismus wird die Erkenntnisfähigkeit zugleich als letzter Grund des Menschen erkannt (Buddha-Natur). Insofern kann man aus einer buddhistischen Überzeugung gar nicht anders, als für eine Versöhnung zwischen Denkformen oder Religionen einzutreten. So heißt es denn auch praktisch gewendet im 12. Felsenedikt des buddhistischen Königs Ashoka aus dem 2. Jahrhundert vor unserer Zeit: „So ist denn nur das Zusammengehen gut, auf dass ein jeder der Ethik des anderen Gehör und Aufmerksamkeit schenke." Genau dieser Gedanke ist es, den der Dalai Lama in der indischen Verfassung im Begriff ‚säkular' wiedererkannt hat.
Doch die buddhistische Tradition hat noch mehr zur Begründung einer säkularen Ethik beizutragen. Das Wort ‚säkular' hat die Bedeutung von ‚weltlich', zur bürgerlichen Gesellschaft gehörig. Es bezeichnet einen Ort ‚außerhalb der Religion'. Ich schlage vor, dies auch so zu interpretieren, dass eine säkulare Ethik sich auf von besonderen Denksystemen unabhängige Tatsachen stützt, also auf etwas, das niemand vernünftig bestreiten kann. Solch eine offensichtliche Tatsache ist die universelle, gegenseitige Abhängigkeit aller Dinge und Gedanken. Jeder Blick in die Welt, in das Leben von Menschen und anderen Lebewesen offenbart diese einfache Tatsache: Alle Phänomene, alle Dinge, alle Gedanken, alle Handlungen und Überzeugungen sind voneinander abhängig. Es gibt keine isolierten Tatsachen, Dinge oder Lebewesen. Weder Menschen noch Dinge haben einen unabhängigen Ich-Kern. Nichts ist eine nur mit sich selber identische, isolierte Substanz. Diese Einsicht hat sich als Grundlage auch in (fast) allen Wissenschaften durchgesetzt – in der Ökonomie ebenso wie in der Quantenphysik. Seelische, damit auch moralische Eigenschaften des Menschen jeweils auf ein Einzelwesen (dessen Genom oder dessen Gehirn) zurückführen zu wollen, führt wissenschaftlich in die Irre. Gehirn und Genom sind ein Produkt der Evolution, und diese Evolution hat sich innerhalb von tierischen und menschlichen Gemeinschaften im tätigen Verhältnis zur Natur entwickelt. Die gegenseitige Abhängigkeit geht immer voraus.

Jede trennende Religion oder Ideologie ist ein Irrtum.

 


Daraus ergeben sich zwei Schlussfolgerungen. Erstens können wir auf die Vernunft der Menschen zurückgreifen. Menschen sind wenigstens prinzipiell fähig, ihre gegenseitige Abhängigkeit auch zu erkennen. Sie erfahren sie täglich positiv als Glück, negativ als Leiden. Es gibt zweitens nur eine ethische Wahrheit, die diese gegenseitige Abhängigkeit korrekt zum Ausdruck bringt: Das ist das Mitgefühl. Wir sind immer schon miteinander verbunden. Jede trennende Religion oder Ideologie ist ein Irrtum. Insofern ist die säkulare Ethik in diesem Sinn durchaus universell, vernünftig und zugleich offen für alle Systeme. Und eine säkulare Ethik ist eine Ethik des Mitgefühls. Eben dies lässt sich durchaus als Kern aller Religionen entdecken, wenn man sie vom Ballast lokaler und zeitgebundener Vorstellungen befreit.

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Dr. Karl-Heinz Brodbeck

Dr. Karl-Heinz Brodbeck

Prof. em. Dr. Karl-Heinz Brodbeck war bis 2014 Professor für Wirtschaftswissenschaften an der FH Würzburg und der Hochschule für Politik, München. Er ist Dharma-Praktizierender seit über 40 Jahren, beeinflusst vor allem durch Theorie und Praxis des Mādhyamaka-Systems. Zahlreiche Publikationen,...
Kommentare  
# Amir 2017-12-06 08:36
Wir vergessen leider viel zu ift, das Menschlichkeit der einzige weg zu einer besseren zukunft ist..
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