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Diskurs

Wer sich eine Meinung bilden will, braucht Experten – auch Buddha kann eine Wahl sein. 

Es ist eine große historische Errungenschaft, dass allen Menschen politisch eine eigene, freie Meinung eingeräumt wurde. Das ist keineswegs selbstverständlich. Ein Blick in die Geschichte oder auch in einige andere Länder genügt. Demokratien leben von der praktischen Fiktion, dass jeder tatsächlich auch ein Experte in sämtlichen Fragen ist, die zur Abstimmung kommen. Jeder sei zudem, sagt der Biografieforscher Fritz Schütze, ‚Experte und Theoretiker seiner selbst‘. Diese Vorstellung scheint dem zu entsprechen, was der Buddha in seiner berühmten Rede an die Kalamer formulierte. Er sagte zusammengefasst: Geht nicht nach heiligen Schriften, bloßen Theorien, Meinungen, nach ‚der Autorität eines Meisters‘. Wenn man ‚aber selber erkennt‘, so soll man alltägliches oder ethisches Handeln danach ausrichten.

Ist also jeder tatsächlich letztlich ein Experte, zumindest Experte seiner selbst, oder folgen wir nicht doch vielfach der Autorität eines Meisters? Jeder vertraut doch irgendeinem Experten, vertraut Autoritäten, auch wenn einem das vielfach individuell gar nicht mehr bewusst ist. Allerdings gibt es beim Vertrauen in Autoritäten durchaus Wahlfreiheit. Wenn jemand fragt: „Wie viel ist 17,3 mal 8,5?“, dann nimmt man das Smartphone und sagt: „147,05“. Man würde keinen Kardiologen oder Theologen um das Ergebnis so einer Rechnung bitten. Sie sind zwar zweifellos Experten, doch man vertraut in so einer Frage dem Taschenrechner. Warum eigentlich? Nun, weil jeder diese Frage auch per Hand, wenn auch umständlich, wie in der Schule erlernt, beantworten könnte. In schwierigen Fragen, in denen man weder Wissen noch Erfahrung hat, müssen wir aber auf Experten vertrauen. Ein Beispiel aus der Medizin: Obgleich es sich um den eigenen Körper handelt, verlässt man sich bei Schmerzen meist auf einen Arzt, mehr als auf die eigene Wahrnehmung.

In Fragen der Moral und des Handelns ist eine kritische Prüfung, auch eine kritische Selbstprüfung unerlässlich.

Ist die Forderung des Buddha, nur dem zu vertrauen, was wir ‚selber erkannt‘ haben, also nicht etwas übertrieben? Der Buddha spricht hier von moralischen Überzeugungen. Es geht also um ethische Werte. Und hier – darin liegt die Modernität des Buddhismus – sollten wir gerade nicht nach heiligen Büchern, Gurus oder übernommenen Meinungen gehen. In Fragen der Moral und des Handelns ist eine kritische Prüfung, auch eine kritische Selbstprüfung (Meditation), also unerlässlich – wenigstens für jemanden, der einen buddhistischen Weg zu gehen beabsichtigt.

Was einfach klingt, ist jedoch nicht frei von durchaus auch prinzipiellen Problemen. So könnte ein Philosoph, ausgebildet in Logik, kritisch feststellen: Diese Aufforderung des Buddha ist ja selbst eine Morallehre und der Buddha ist selbst eine Autorität. Weshalb sollten wir also auf ihn hören? Denn hören wir auf ihn, wenn er sagt, wir sollen in ethischen Fragen auf keine Autorität vertrauen, so dürfen wir ihm gerade nicht vertrauen. Das ist dasselbe wie beim berühmten Kreter, der sagte: „Alle Kreter lügen“ – und so seine Aussage selbst aufhebt.

Was hier wie eine philosophische Spitzfindigkeit anmutet, verbirgt doch ein zentrales Problem, und zwar keineswegs nur in der Ethik oder in der Religion. Die Frage, die sich hier auftut, lautet: Heißt das Vertrauen auf eine bestimmte Aussage beziehungsweise den Glauben an eine bestimmte Lehre auch, dass man dem Menschen, dem Lehrer, dem Experten als Menschen vertrauen sollte? Wenn Buddhismus einfach nur als Lehre wahrgenommen wird, so ergibt sich kein Problem. Der Buddha hat gesagt: „Wer meine Lehre sieht, sieht mich. Wer mich sieht, sieht die Lehre.“ Fast immer hat sich historisch mit einer Lehre auch eine Verehrung, in Religionen eine Überhöhung der Person des Lehrers verbunden. Im Christentum wurde aus dem Lehrer der Lehre von Gottes Reich sogar selbst ein Gott. Millionen Menschen folgten und folgen dieser Verkündigung und beten zum Lehrer.

Unabhängig von der Wahrheit dessen, was sie lehren, ihre Autorität beruht nur darauf, dass viele Menschen diese Autorität anerkennen und an sie glauben.

Nun gibt es im Buddhismus bekanntlich keinen Gott. Auch der Buddha ist kein Gott. Dennoch wurde er im Laufe der letzten zweieinhalb Jahrtausende zu einer vielfach unhinterfragten Autorität. Mehr noch: Die Lehrer, die den Buddhismus lehren, wurden im Tantrismus selbst wieder als ‚Buddhas‘ überhöht. Was ein Guru sagt – durchaus auch in anderen Traditionen –, das gilt dann als unumstößliches Wort, ganz entgegen dem, was der Buddha den Kalamern geraten hatte.

Was ist hier geschehen? Es ist hier eine Struktur erkennbar, die auch in anderen Denksystemen, nicht zuletzt in den Wissenschaften, vorherrscht. Erstens wird jedes Wissen auch tradiert. Das heißt: Es bilden sich Institutionen wie Klöster, Kirchen, Schulen oder Universitäten. Zweitens werden in solchen Institutionen junge Menschen zu Experten des jeweiligen Systems herangebildet. Damit geht schrittweise die Wahrheit, die Geltung einer Lehre auf eine Institution und auf die in und aus diesen Institutionen wirkenden Experten über. Man könnte sagen: Das, was im Christentum nur von einem Menschen – von Jesus – behauptet wird, das vollzieht sich in kleinerem Maßstab in allen Institutionen. Die Wahrheit scheint sich in Experten zu verkörpern. Nicht mehr die Lehre, die Theorie oder auch nur die Meinung zählen, es zählt die Autorität eines Experten.

Weshalb aber wird jemand als Guru oder Experte anerkannt? Gewiss, weil die Institution, aus der ein Experte stammt, anerkannt wird. Vor allem aber: Jemand ist Guru oder Experte, weil viele Menschen eben zirkulär daran glauben. Das gilt durchaus auch für anonyme Experten. Eine Meinung im Internet gilt nur deshalb, weil viele Menschen dieser Quelle vertrauen, inzwischen vielfach mehr als den herkömmlichen Medien. Es liegt hier ein zirkuläres Verhältnis vor, das Nāgārjuna am Beispiel von Vater und Kind so erläutert: Der Vater zeugt ein Kind; aber es ist das Kind, das überhaupt erst den Vater als Vater erschafft. Erst ein Kind macht die Frau zur Mutter, den Mann zum Vater. Marx hat mit Blick auf politische Verhältnisse einmal einen ganz ähnlichen Gedanken formuliert: „Dieser Mensch ist etwa nur König, weil sich andre Menschen als Untertanen zu ihm verhalten. Sie glauben umgekehrt, Untertanen zu sein, weil er König ist.“ Diese Denkfigur lässt sich auf alle Experten, auf Gurus, auf Religionsstifter oder auf Politiker und Wissenschaftler übertragen. Ganz unabhängig von der Wahrheit dessen, was sie lehren oder nur ‚verkörpern‘ – ihre Autorität beruht nur darauf, dass viele Menschen diese Autorität anerkennen und an sie glauben. Das ist zweifellos zirkulär. Doch exakt so funktionieren viele soziale Verhältnisse.

In Institutionen ist dieser Zusammenhang allerdings vielfach verhängnisvoll. Weil sich viele Menschen vor Institutionen und ihren Repräsentanten verneigen, sind die Repräsentanten und Experten – getrieben von den drei Geistesgiften Ich-Wahn, Gier und Aggression – immer wieder versucht, ihre Position für sich auszubeuten. Den sexuellen und finanziellen Missbrauch der Autorität einer Lehrerrolle findet man leider auch im Buddhismus und in der katholischen Kirche – und zwar auf allen Ebenen. In der Politik sind bis in die höchsten Ränge Geld- und Sex-Skandale von Politikern nicht nur in den USA unrühmlich bekannt geworden.

Alle Menschen vertrauen auf bestimmte Autoritäten – und können getäuscht werden.

Aber sogar in vermeintlich rein wissenschaftlichen Institutionen, wie etwa dem Weltklimarat (IPCC), wurde dessen Vorsitzender wegen sexueller Belästigung angeklagt; bei anderen Mitgliedern wurden Betrugsmanöver bekannt (‚Climategate‘). Dass auch traditionelle Medien, gewiss nicht ohne eigenes Verschulden, in die Kritik geraten sind, ist bekannt. Hatten zunächst viele nur den Kopf geschüttelt, als US-Präsident Donald Trump CNN und andere Medien ‚fake news‘ nannte, so geriet erst jüngst das Meinungsbild darüber ins Wanken. Beim wichtigsten politischen Magazin in Deutschland – ‚Der Spiegel‘ – wurde ein Autor enttarnt, der jahrelang, sogar mit Medienpreisen überhäuft, Berichte und Stories einfach erfunden, genauer: erlogen hatte.

Nicht nur in ethischen Fragen sind Expertisen somit fragwürdig geworden. Dass das große Geld zudem hierbei noch kräftig mitmischt, sei nachdrücklich betont. In wirtschaftlichen oder ökologischen Fragen werfen sich teils hoffnungslos zerstrittene Parteien wechselseitig vor, dem Einfluss reicher Gönner zu erliegen. Und – leider – hat sich dies in vielen Fällen auch bestätigt. Oftmals spielt die Forschungsfinanzierung bei wirtschaftlich und politisch brisanten Fragen eine größere Rolle als empirische Beobachtung oder wissenschaftliche Redlichkeit. Dass zudem in den Religionen, aber auch in der Philosophie viele Autoritäten ihre Aussagen auch nach Macht, Großspendern und politischem Klima ausrichteten, lässt sich am historisch gut dokumentierten Streit vieler Gruppierungen belegen.

Die Situation ist nicht einfacher geworden durch das überquellende Informationsangebot in der Gegenwart. Dem Ratschlag des Buddha, selbst zu erkennen, der durchaus dem sapere aude bei Immanuel Kant als Wahlspruch der Aufklärung entspricht, kann in schwierigen, auch bei nur moralischen Fragen nur selten Folge geleistet werden. Jede Frau, jeder Mann ist auf Experten angewiesen, vertraut – bewusst oder unbewusst – der Autorität von Menschen, Traditionen oder Institutionen.

Der Dalai Lama hat mit Blick auf die jüngsten Sex-Skandale gemeint, dass die Institutionen, in denen Religionen tradiert werden, immer noch feudale Strukturen aufweisen. Zu gerne, so seine Worte, suchen Lehrer auch die Nähe zu Macht und Geld. In den Wissenschaften ist ein Missbrauch und eine zu große Nähe zu Geld und Macht nicht weniger auffallend.

Sicherheit

Gewiss kann man diese Verhältnisse feudal nennen. Es gibt den Versuch, hier gleichsam demokratische Elemente einzuführen. So wird bei Umfragen immer wieder ausgezählt, welcher Anteil einer Gruppe einer bestimmten Auffassung zustimmt oder nicht. Bei politischen oder sozialen Fragen, von denen alle doch in einem bestimmten Umfang selbst betroffen sind und damit Erfahrung haben – Rente, Mindestlohn, Verbote oder etwa Förderungen –, erscheint diese Methode zunächst noch sinnvoll. Doch haben die Techniken der Meinungsbeeinflussung durch PR und Werbung auch auf sehr private Überzeugungen immer stärkeren Einfluss gewonnen. Die beiden Begründer der PR, Walter Lippmann und Edward Bernays, deren Hauptwerk ‚Propaganda‘ heißt, haben Techniken entwickelt, die heute in Politik und Wirtschaft virtuos angewandt werden. Was viele für eigene Intuition halten, ist oft das Resultat langjähriger Beeinflussung.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 107: „Guru, Meister und Verführer"

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Prinzipiell lässt sich sagen, dass die Hoffnung, man würde weniger in die Irre gehen, wenn man der Meinung einer Mehrheit folgt, nicht haltbar ist. Die Folgen des Wahns großer Menschenmassen füllen die Geschichtsbücher. In den Wissenschaften ist die Demokratie zudem keine Form der Wahrheitsfindung. Die Wahrheit findet man nicht durch Abstimmung – nicht in der Moral, noch weniger in der Wissenschaft. Es gilt hier, was der französische Philosoph René Descartes sagte: „Stimmen zu zählen, um der Meinung beizutreten, die mehr Autoritäten für sich hat, würde auch nichts nützen; denn wenn es sich um einen schwierigen Streitpunkt handelt, so ist es glaublicher, dass seine Wahrheit von wenigen gefunden werden konnte als von vielen.“

Es gibt hier keine Patentantwort. Alle Menschen vertrauen auf bestimmte Autoritäten – und können getäuscht werden. Es ist immer wieder unvermeidlich, sich auch falsch zu entscheiden. Anders gesagt: Es gibt keine Möglichkeit, in Samsāra, also in der reinen Wahrheit, zu verharren. Deshalb lässt sich der Rat des Buddha auf folgende Weise zusammenfassen: Überprüfe immer wieder auch deine eigenen Überzeugungen, dein Vertrauen auf Autoritäten, selbst bei vermeintlich edlen, heiligen oder gar erleuchteten Lehrern. Auch wenn man sich dadurch scheinbar selbst zu widersprechen scheint, sei abschließend doch noch eine Autorität zitiert. Der Ökonom Daniel Kahneman – er erhielt 2002 den Wirtschaftsnobelpreis – sagte: „Trauen Sie niemandem – auch nicht sich selbst –, der Ihnen sagt, dass Sie seinem Urteil vertrauen sollten.“

 

Prof. em. Dr. Karl-Heinz Brodbeck war bis 2014 Professor für Wirtschaftswissenschaften an der FH Würzburg und der Hochschule für Politik, München. Er ist Dharma-Praktizierender seit über 40 Jahren, beeinflusst vor allem durch Theorie und Praxis des Mādhyamaka-Systems. Zahlreiche Publikationen, u.a. ‚Buddhistische Wirtschaftsethik‘ (2. Auflage, 2011); ‚Die Herrschaft des Geldes‘ (2. Auflage, 2012); ‚Säkulare Ethik‘ (2015).

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Dr. Karl-Heinz Brodbeck

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Prof. em. Dr. Karl-Heinz Brodbeck war bis 2014 Professor für Wirtschaftswissenschaften an der FH Würzburg und der Hochschule für Politik, München. Er ist Dharma-Praktizierender seit über 40 Jahren, beeinflusst vor allem durch Theorie und Praxis des Mādhyamaka-Systems. Zahlreiche Publikationen,...
Kommentare  
# Elisen Spies 2020-04-07 08:53
Buddha ist ein Experte, der alle gegenwärtigen Experten austrixt:
" Sei achtsam, lass dir nicht alles als Wahrheit verkaufen".
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