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Diskurs

Ein Kranker begibt sich ins Spital und dort angekommen, scheint es schwierig, das Leiden auf den Punkt zu bringen. Eine literarische Reise ins Krankenhaus. 

Meistens ging es ihm ja gut, also einigermaßen, also, es war da nichts, was so wirklich, immerhin, nun ja, wie man so sagt, er konnte nicht klagen. Nun, also gekonnt hätte er schon, wenn man das so wörtlich, aber eben, man nimmt’s ja nicht immer – na, Sie wissen schon. Aber heute war’s doch irgendwie, also da war so ein Schmerz, ganz seltsam, irgendwie links hinten, und dann wieder doch eher rechts, und dann wieder doch nicht, aber schon auch wieder, jedenfalls beschloss er, die Ambulanz aufzusuchen. Er möge einstweilen im Behandlungszimmer Platz nehmen, hieß es nach längerer Wartezeit. Die Frau Doktor komme dann gleich zu ihm. Er setzte sich also nach einiger Unsicherheit auf den linken der beiden Stühle, die im Behandlungszimmer warteten.
Und dann kam sie herein, eiligen Schrittes. Eine Ärztin, schon ein paar graue Haare, aber immer noch recht drahtig. Er stand auf. Sie machte eine ungeduldige Handbewegung, dass er sich wieder setzen solle.

Der Patient

„Was führt Sie zu mir?“, fragte sie mit müder Stimme.

Nach einigem Zögern setzte er sich: „Also, eigentlich wollte ich ursprünglich mit dem Taxi. Aber dann habe ich mir überlegt, Ihr Honorar, und dann auch noch das Taxi, bin ich mit der Straßenbahn …“

„Jaja. Also: Was haben Sie für Beschwerden?“

„Beschwerden? Also beschweren würde ich mich nie, ich bin ja, ich meine, ich bin ja schon so dankbar, dass Sie mich behandeln – also behandeln wollen, weil bis jetzt haben Sie ja noch nicht – also –, dass die Bereitschaft, grundsätzlich …“

„Mein Gott, also, was fehlt Ihnen?“

„Mein Gott, was mir fehlt? Wie viel Zeit haben Sie denn – also ich meine, da gibt es so viel. Wie viel Zeit können Sie denn für mich erübrigen?“

„Also jetzt weiß ich schon bald nicht mehr, wie ich es sagen soll: Was kann ich für Sie tun, ich meine, welche ärztliche Hilfe – also jetzt: ärztliche Hilfe – brauchen Sie denn?“

Er seufzte tief: „Ach, Frau Doktor, wenn Sie mich so fragen: Es gibt ja so vieles, das ich gern mit Ihnen besprechen würde. Also, wo fang ich nur an?“

„Besprechen, das ist mehr ein Fall für die Psychiatrie. Schwester!“ – Stille. Etwas lauter rief sie: „Schwester! Mein Gott, hört mich denn keiner? Schwester!!“

„Sehen Sie, Frau Doktor, mir geht es genauso! Keiner hört mich. Und dabei hätte ich so viel zu sagen – so viel zu besprechen! Denn ich kann auch zuhör…“

„Jaja. Jetzt gehen Sie einmal bitte hinaus, dann rechts, dritter Stock, vierter Gang links, und dort melden Sie sich bitte bei der Oberschwester von der Psychiatrie.“

„Ja. Danke. Vielen herzlichen Dank.“ Er stand auf, machte ein paar Schritte. „Übrigens, das Knie tut mir weh.“

„Das Knie tut Ihnen weh? Seit wann?“

„Schon lange. Gerade erst hab ich’s wieder gespürt.“

„Also was jetzt: Seit langem oder seit jetzt gerade erst?“

„Weh tut’s schon seit langem. Aber spüren tu ich’s seit gerade erst jetzt wieder.“

Die Ärztin seufzte tief. „Also gut, setzen Sie sich wieder hin und ziehen Sie einmal die Hose hoch.“

Er setzte sich: „Hoch? Oder aus?“

„Hochziehen wird genügen.“

„Aber können Sie dann auch alles sehen, was Sie sehen müssen? Ich meine, meine Hosenbeine sind ja eher knapp geschnitten …“

„Also gut, dann ziehen Sie die Hose halt aus, wenn Sie meinen.“

„Nein, nein. Nicht, wie ich meine. Wie Sie meinen. Sie sind ja schließlich der Arzt. Entschuldigung. Die Ärztin. Ich wollte jetzt nicht politisch unkorrekt oder genderungerecht oder so …“

Sie griff sich an die Stirn, schüttelte den Kopf, und sagte leise: „Oh du mein Gott.“

„Nicht wahr, Sie sind auch religiös? Ich hab das gleich gemerkt, dass ich zu Ihnen Vertrauen haben kann. Ich hab da einmal, also er ist ein guter Freund von mir …“

„Bitte, bitte – wo genau tut es Ihnen denn weh?“

Er zeigte auf sein Knie: „Hier. Er ist ein Priester. Auch sehr religiös. Wirklich, ein guter Mensch.“

„Jaja. Tut es mehr weh, wenn Sie das Knie bewegen, oder mehr in Ruhe?“

„Beim Bewegen in Ruhe. Also wenn ich es in Ruhe bewege. Weil hastig, das ist gar nicht, das soll man nie – das sagt auch mein Freund, der Pries…“

Inzwischen hatte die Ärztin ein Hämmerchen hervorgeholt und klopfte auf das Knie. „Au!“, rief er.

„Tut das weh?
„Wenn Sie fester draufhauen würden, dann würde es wehtun.“

„Aha. Also Sie wollen, dass ich fester draufhaue?“, meinte sie, und es klang doch ein wenig spöttisch.

„Ah! Nein!“, erschrak er. „Also das heißt – wenn es medizinisch notwendig ist …“

„Aha! Also wenn es medizinisch notwendig ist. Und Sie wissen natürlich, was medizinisch notwendig ist.“ War da schon ein wenig Zynismus zu hören, in diesem Tonfall?

„Aber nein!“, beeilte er sich zu sagen. „Sie sind doch der Arzt! Also ich meine, die Ärztin! Entschuldigung, ich wollte keinesfalls gender…“

„Jaja. Das hatten wir schon.“

„Ich merke das schon: Sie sind irgendwie … Sie wollen irgendwie, also, Sie möchten irgendwie nicht, dass ich – also, wie soll ich sagen – wissen Sie, ich bin zwar nur ein Mann. Aber ich habe auch Gefühle. Und man sollte Gefühle nicht verletzen. Auch nicht als Arzt. Also – Ärztin. Gender – na ja.“

Sie atmete sehr tief ein und wieder aus, stützte den Kopf in beide Hände: „Ich kann nicht mehr.“

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Wissen Sie, ich helfe gern. Wenn ich kann. Ich, also ich, ich helfe gern.“

Eine längere Pause folgte. Die Ärztin schaute ihn verzweifelt an. „Wenn Sie mir wirklich helfen wollen, dann halten Sie den Mund und gehen Sie.“

Wieder verstrich eine längere Pause, und dann sagte er, und das Drama der unterdrückten Kreatur entrang sich seiner Kehle: „Ich werde mit meinen Leiden wohl allein fertigwerden müssen.“

„Was denn für Leiden? Sie haben ja gar kein Leiden! Außer, dass Ihnen das Knie …“

„Und das reicht Ihnen nicht? Schmerzen im Knie, das ist nix? Und das ganze Leiden des Menschseins überhaupt? Und außerdem habe ich Zahnschmerzen. Wahrscheinlich auch psychisch oder so, werden Sie jetzt gleich sagen.“

„Ich glaube, je länger wir uns unterhalten, desto mehr Schmerzen haben Sie.“

„Wir sollten uns wirklich einmal über Ihre Auffassung von Ihrem Beruf unterhalten. Weil ich spüre da bei Ihnen eine innere Abwehr, ich weiß wirklich nicht, ob Sie als Arzt – äh – Ärztin …“

„Und Sie sind Psychologe, oder was?“

„Nein. Elektrotechniker. Aber ich interessiere mich sehr für Psychologie. Und Medizin auch, übrigens. Ich habe da neulich einen Workshop …“

Sie griff sich an die Stirn, nahm eine Yoga-Haltung ein und atmete tief durch.

„Ach, Sie auch?“, erkannte er sofort die Figur. „Das ist ja interessant. Wir könnten auch gemeinsam – ich kenne da eine Übung, die wird Ihnen guttun. Passen Sie auf: Sie müssen mit dem linken Arm nach schräg rechts unten, am Brustkorb vorbei, und dann mit dem rechten Bein – warten Sie, ich helfe Ihnen …“ Er stand auf, ging um die Ärztin herum, fasste von hinten ihren linken Arm und verknotete die Ärztin fachgerecht, wie er es in seinem vorvorletzten Workshop gelernt hatte.
Eine Schwester kam herein: „Frau Doktor, Sie haben mich gerufen?“

„Ja“, antwortete er. „Die Frau Doktor braucht dringend Unterstützung. Sehen Sie doch. Aber wir schaffen das schon. Wenn Sie nur bitte hier – nein, nein, hier – nicht so fest – ja – ja – nein – jetzt – also – Moment – nein …“ Aber dann erkannte er doch, dass die Schwester in der Yoga-Technik nicht so wirklich zu Hause war. Er führte also die Frau Doktor im Taxi zu sich nach Hause. Dort ist er noch immer damit beschäftigt, sie aufzuknoten. Aber seine Beschwerden haben sich deutlich gebessert.

Aus dem Buch ‚Alain Pfisterer’s Gedächtnis und andere Erzählungen‘, Goa Koana & Waratfy Ztaia Verlag 2017.

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Dr. Anselm Eder

Dr. Anselm Eder

Dr. Anselm Eder, geboren 1947 in Wien, hat bis 2012 als Universitätsprofessor am Institut für Soziologie mit Forschungsschwerpunkten unter anderem in den Bereichen ‚Medizinische Soziologie‘, ‚Körpersprache als Beobachtungsfeld‘ und ‚Simulation sozialer Interaktionen‘ gearbeitet. Seit ...
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