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Diskurs

Ist das internationale Handelsabkommen ein letzter Rettungsversuch, um den Zerfall aufzuhalten?

Die Zentralbanken der wichtigsten Staaten gehen in der Kreditvergabe mit Geschäftsbanken schrittweise dazu über, sie durch negative Zinsen zum weiteren Schuldenmachen anzuhalten. Diese deflationäre Entwicklung interpretiert die Deutsche Bank in einer jüngst veröffentlichten Studie als ein sich abzeichnendes Ende der Globalisierung. Dieser Gedanke spricht eine Wahrheit aus, die ich genauer erläutern möchte. Die Absicht der politisch-wirtschaftlichen Elite, in Europa und den USA in dieser Situation gleichwohl das TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) – ein Handelsabkommen zwischen den USA und Europa – durchzusetzen, lässt sich als Versuch deuten, diesen Prozess aufzuhalten und die Globalisierung weiter zu vertiefen. Dieser Widerspruch scheint gegenwärtig verborgen zu sein unter den aktuellen Ereignissen: Flüchtlingskrise, Kriegsgefahr und das Erstarken rechtsnationaler Gruppierungen in Europa und den USA. Tatsächlich sind all dies aber nur verschiedene Symptome eines grundlegenden Prozesses.
Es ist hilfreich, einen Blick in die Vorgeschichte des TTIP zu werfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die bis dahin noch weitgehend auf das je eigene Land konzentrierten europäischen Volkswirtschaften durch die WTO (World Trade Organization) für einen US-dominierten globalen Markt geöffnet. Das Volumen weltweiter Warenexporte nahm zwischen 1950 und 2008 real um mehr als das 30-Fache zu. 2009 erfolgte durch die globale Finanzkrise ein tiefer Einbruch; die Exporte sanken um 12%. Das wurde indes bereits 2010 wieder durch einen erneuten Anstieg kompensiert. Diese bislang nur durch die WTO geförderte Globalisierung scheint den ökonomischen Eliten im Wirtschafts- und Finanzsystem seit der Krise offenbar zu ungewiss.
Erkennbaren Wachstumsschwächen versucht die neoliberale Politik bereits seit längerer Zeit durch wachsende Integration der Volkswirtschaften entgegenzuwirken. Das Projekt ‚Europa‘ wurde in diesem Sinn schrittweise von einem kulturell-politischen in ein ökonomisches Projekt transformiert und mündete im politischen Chaos – die Flüchtlingskrise zeigt das dramatisch. Der Zusammenhalt beruht nur noch auf dem Euro und der gemeinsamen Zentralbank. Europa als kulturelles Projekt wurde den Wirtschaftsinteressen geopfert. Dieser Integrationsprozess sollte durch Welthandelsverträge zunächst nur ergänzt werden. Die Erfahrungen der Krise 2008 haben die Politik aber offenbar zur Überzeugung gebracht, dass man den Integrationsprozess noch viel weiter fortführen müsse, um Europa mit den USA und Kanada in einen einheitlichen Wirtschaftsraum zu verwandeln.

 

Europa als kulturelles Projekt wurde den Wirtschaftsinteressen geopfert.


Ein weiterer Faktor kam hinzu. Das neoliberale Projekt, den ganzen Globus ohne Grenzen in einen immer homogener werdenden Wirtschaftsraum zu verwandeln, hat in den USA, teilweise auch in Europa, dazu geführt, dass die industrielle Fertigung mehr und mehr in Drittländer verlagert wurde, in denen niedrigere Löhne, Sozial- und Umweltstandards herrschen, um so die Renditen weiter zu steigern. Auf diese Weise wanderten viele Produktionsprozesse nach China und in andere asiatische Länder, auch nach Südamerika, nach Mexiko und nach Osteuropa.
Das Ergebnis dieser Standortverlagerung war durchaus widersprüchlich. Die Unternehmensgewinne stiegen zunächst massiv. Dies wurde begleitet durch neue Finanzierungsformen und Eigentumsrechte – sprich: Immer mehr übernahmen die Aktien- und Finanzmärkte die Kontrolle der Unternehmen (Stichwort: Shareholder Value). Die Finanzmärkte vollzogen somit längst vor der realwirtschaftlichen eine monetäre Globalisierung. Die Verlagerung der Produktion aber führte zugleich zur Entwicklung der Industrie in den Ländern mit ausgelagerter Produktion, was vorwiegend in China und einigen asiatischen Ländern zu einem erheblichen Erstarken der nationalen Wirtschaft führte. Symmetrisch dazu stieg in den USA und in Europa die Arbeitslosigkeit. Es wurden nicht nur Maschinen, sondern auch Jobs aus Europa und den USA exportiert. Daraus ergab sich eine massive Belastung der Sozialsysteme. Noch vor der ‚Bankenrettung‘ durch die Steuerzahler 2008 führte dies zu einer dramatisch wachsenden Staatsverschuldung.

 

Zusammen mit dem ‚Arabischen Frühling‘ und der Zerschlagung Libyens erscheinen die Flüchtlingsströme somit als direkt erkennbare Folge des wirtschaftlichen, militärisch begleiteten Globalisierungsprozesses.


Zweifellos bewirkte die US-dominierte Globalisierung einen Wachstumsschub. Zugleich aber erstarkte China und wurde zum großen Konkurrenten des Westens. Die massive Produktionszunahme weltweit, begleitet von einem wachsenden Energiehunger, trieb politisch den Westen unter der Führung der USA zu immer neuen Kriegen im Nahen Osten und in Afrika, um die Energie- und Rohstoffversorgung durch ‚freundliche‘ Regierungen zu sichern. Mittels der geschürten Terrorhysterie, die – oft erfundene – Anlässe für immer neue Kriegseinsätze fand, blieben im Ergebnis gescheiterte Staaten (‚failed states‘) von Osteuropa über Afghanistan bis Afrika zurück. Dieses Chaos wird regiert von korrupten, teils gewalttätigen Gruppen, die durch Waffenexporte auch noch gefördert wurden. Deren Terror gegen die eigene Bevölkerung löste wiederum gewaltige Flüchtlingsströme aus. Das ist der reale Prozess der Globalisierung, der von Ökonomen in einer charakteristischen Berufsblindheit ausgeblendet wird. Sie sehen überall nur Märkte und fordern deren Freiheit.
Durch das politische und ökonomische Erstarken Chinas, die zunächst deutlich erkennbare Erholung Russlands, aber auch die wachsende Bedeutung südamerikanischer Staaten und Südafrikas schuf die Globalisierung eine völlig neue Weltordnung, freilich gar nicht nach dem Geschmack der westlichen Länder. Die Weltmarktkonkurrenten schlossen sich in den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) zu einem Wirtschaftsverbund zusammen, der langfristig ein eigenes Währungssystem zur teilweisen Ablösung des US-Dollars anstrebt. Das westliche Militärbündnis (NATO) hat diesen Prozess begleitet, nicht ohne der US-amerikanischen und europäischen Waffenindustrie in atemberaubender Verschwendung menschlicher und materieller Ressourcen einen neuen Aufschwung zu bescheren. Russland und China stehen hier nur wenig zurück, sodass der ökonomische Wettbewerb von einer drohenden militärischen Konfrontation immer mehr überschattet wird. Im Nahen Osten sind es vor allem die gewaltigen Erdöllager im Iran, die bislang noch nicht westlich kontrolliert sind. Die enge Kooperation des Iran mit Syrien hat im Gegenzug durch die Intervention der USA und der Türkei zu einem Bürgerkrieg geführt, in dem verschiedene islamistische Gruppen für einen Regime-Change bewaffnet wurden. Zusammen mit dem ‚Arabischen Frühling‘ und der Zerschlagung Libyens erscheinen die Flüchtlingsströme somit als direkt erkennbare Folge des wirtschaftlichen, militärisch begleiteten Globalisierungsprozesses.


Dieser Globalisierungsprozess soll nun durch TTIP und weitere Abkommen ökonomisch noch forciert werden, um Europa endgültig in die US-amerikanische Wirtschaftsstruktur einzubinden und so auch langfristig politisch zu kontrollieren. Doch die Entwicklung verläuft nicht ganz so, wie es die neoliberalen Eliten erträumt hatten. Es regt sich Widerstand. Was würde TTIP bewirken? Die Kontrolle über die Industrie und die Finanzmärkte würde wortwörtlich schrankenlos. Nationale Standards und Gesetze für soziale und ökologische Maßnahmen wären ausgehebelt. Der demokratische Prozess würde schrittweise ausgeschaltet durch private Anwaltskanzleien, die – in den USA bereits alltägliche Praxis – Projekte von privaten Firmen realisieren, ohne der lokalen Bevölkerung ein demokratisches Vetorecht einzuräumen.

Der Globalisierungsprozess soll nun durch TTIP und weitere Abkommen ökonomisch noch forciert werden.

 

Das Beispiel der Wasserversorgung ist hier charakteristisch: Privatisierungsversuche in Europa wurden wegen der teils katastrophalen Konsequenzen für die lokale Wasserversorgung und explosionsartig steigenden Preise wieder rückgängig gemacht. Durch TTIP könnten private Firmen hier Schadensersatzforderungen stellen, die jede lokale Verwaltung in die Verschuldung trieben oder gänzlich insolvent machten. Die Herrschaft des Privaten über das Öffentliche würde zum umfassenden Prinzip – unter anderem in der Industrie, den öffentlichen Dienstleistungen, der Altersvorsorge, dem Schulsystem, der Hochschulausbildung, in den Medien. Zudem führte dies zu einer völligen Homogenisierung der Kulturen, damit auch des innovativen Potenzials ganzer Nationen. Innovationen erwachsen aus der kreativen Reibung von Unterschieden, die sich wechselseitig befruchten. Geldwirtschaften legen über alle Prozesse die Illusion der Gleichheit im Horizont des Geldes. Zweifellos kann dadurch ein rein monetäres Wachstum ausgelöst werden. Unter TTIP wären dann aber ökologische und soziale Standards, bislang durch lokales Recht geschützt, wirkungslos.
Grundsätzlich wird eine weitere Konsequenz gerne übersehen. Die satten Extragewinne der Unternehmen durch die Ausbeutung der Niedriglöhne in anderen Ländern beruhten auf nationalen Differenzen. Wenn in Spanien oder Portugal weniger bezahlt wurde als in Deutschland, so erwuchsen aus einer Standortverlagerung erhebliche Gewinne. Wird ein Wirtschaftsraum integriert, wie in der EU, dann entsteht ein massiver Druck auf die Löhne aller Länder. Es findet keine völlige Nivellierung statt, wohl aber ein Stocken, teils Sinken der Privateinkommen. Begleitet wird dies durch die massive Umverteilung unter der Regie der Finanzmärkte, die in den letzten Jahrzehnten die Welt in einen Planeten von 99% Armen und einem Prozent Reichen verwandelt hat. Was bedeutet das ökonomisch? Die erhebliche Steigerung der Produktion durch diese Prozesse und die politisch beschleunigte Funktionalisierung der Rohstoffländer schufen weltweite Überkapazitäten und eine immer deutlicher erkennbare Überproduktion auf der Angebotsseite. Auf der Nachfrageseite steht dem ein Verarmen des Mittelstands, damit ein Rückgang der Konsumnachfrage gegenüber. Deflation und Rezession sind die Folge. Schließlich: TTIP grenzt einen Wirtschaftsraum (USA-Europa) nur gegen einen anderen ab (BRICS-Staaten), ist also im Sinn des Welthandels keineswegs ‚global‘, sondern vor allem auch eine Kampfansage an China – wie das pazifische ‚Schwesterabkommen‘ TTP (Transpazifische Partnerschaft).

Unter TTIP wären ökologische und soziale Standards, bislang durch lokales Recht geschützt, wirkungslos.


Das faktische Scheitern des westlich dominierten Globalisierungsprozesses drückt sich auch durch das Erstarken vieler national orientierter politischer Parteien oder Bewegungen aus. Donald Trump möchte in den USA eine Mauer zu Mexiko errichten, Migranten ausschließen und Jobs wieder in die USA zurückholen. In Europa entzünden sich nationale Protestbewegungen vorwiegend an den Flüchtlingsströmen, die man als Resultat der verfehlten Globalisierungspolitik erkennen kann. Bei aller beobachtbaren Irrationalität, bei allen rassistischen Verirrungen lässt sich bei den nationalistischen Protestparteien ein rationales Element erkennen: Die faktische Abschaffung regionaler Verwaltungen sowie der europäischen Nationalstaaten und damit die Nivellierung der Kulturen durch die Globalisierung erweisen sich langfristig als große Fehlentwicklung. Lokales Wirtschaften, rechtlich geschützt durch regionale, angepasste Rechtssysteme, ist der wichtigste Garant für eine ökologisch verantwortete Lebensweise – nicht eine alles dominierende Zentralregierung in Brüssel oder (was durch TTIP Wirklichkeit werden soll) die Willkür privater Schiedsgerichte durch Anwaltskanzleien aus London und New York. Kulturelle Vielfalt, nicht Homogenisierung unter der Herrschaft weniger Industriegiganten und großer Handelsketten, ist die Quelle von kreativen Prozessen, die für eine ökologische Wende dringend benötigt werden. Der Widerstand gegen TTIP ist also – wider die These der Ökonomen – sehr wohl rational zu begründen.
Die ökonomische Globalisierung ist in ihre Zerfallsphase eingetreten. Das TTIP ist ein letzter Rettungsversuch, eine absehbar scheiternde Fortsetzung jener destruktiven Tendenzen, die aus dem Globalisierungsprozess und seinen politisch-militärischen Begleiterscheinungen erwachsen sind. Es ist hohe Zeit, diesen Prozess umzukehren und die wirtschaftliche in eine kulturelle Zusammenarbeit zu transformieren, in der das Engagement der Bürger, nicht Zentralbanken und die Wall Street regieren. Vielleicht schafft dies auch Raum für ein wenig mehr Vernunft und Mitgefühl.

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Dr. Karl-Heinz Brodbeck

Dr. Karl-Heinz Brodbeck

Prof. em. Dr. Karl-Heinz Brodbeck war bis 2014 Professor für Wirtschaftswissenschaften an der FH Würzburg und der Hochschule für Politik, München. Er ist Dharma-Praktizierender seit über 40 Jahren, beeinflusst vor allem durch Theorie und Praxis des Mādhyamaka-Systems. Zahlreiche Publikationen,...
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