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Diskurs

Die österreichische Sozialwissenschaftlerin Brigitte Kratzwald beschäftigt sich mit der Suche nach Alternativen zum gegenwärtigen Wirtschaftssystem und sucht nach Möglichkeiten, wie die Menschen mit den vorhandenen Ressourcen auskommen können und jeder Einzelne wieder ein Mitspracherecht erhält.

Worin besteht Ihr Forschungsgebiet?
Grundsätzlich setze ich mich mit Fragen auseinander, wie eine Gesellschaft jenseits der kapitalistischen Marktwirtschaft organisiert sein könnte.

Was ist Ihr Ziel?
Es geht darum, wie wir mit den vorhandenen Ressourcen die Bedürfnisse aller Menschen befriedigen können. Weiters wollen wir herausfinden, wie dabei alle Menschen ihre Fähigkeiten mit einbringen und möglichst alle Betroffenen mitbestimmen können.

„Es geht um mehr als Verteilungsgerechtigkeit.“

Geht es Ihnen um mehr Verteilungsgerechtigkeit?
Es geht um mehr als Verteilungsgerechtigkeit. Normalerweise wird zuerst produziert und dann geschaut, wie das Produzierte verteilt werden kann. Wir sollten aber gleich den Bedürfnissen der Menschen entsprechend produzieren, dann müssen wir nicht mehr nachträglich verteilen. (oder: Wenn wir mit den vorhandenen Ressourcen bewusster umgehen, bin ich überzeugt, dass genug für alle da ist.)

94 wandel fuer eine gerechte WirtschaftssystemWie könnte ein neues Wirtschaftssystem aussehen?
Das weiß ich ehrlich gesagt noch nicht. Aber auch das jetzige ist nicht am Schreibtisch entworfen worden, sondern aus dem Versuch entstanden, immer wieder auftauchende Probleme zu lösen. Wir stehen vor allerlei Herausforderungen, die bewirken werden, dass sich das Wirtschaftssystem ändern, weiterentwickeln oder neu formieren wird. Wir arbeiten an alternativen Modellen und würden uns wünschen, dass es in eine andere Richtung geht. Allerdings besteht auch die Gefahr, dass es zu noch größeren sozialen Ungleichheiten und Konflikten kommt. Das Ergebnis ist derzeit völlig offen.

„Unsere Bedürfnisse sind gesellschaftlich geprägt und lassen sich daher auch verändern.“

Wie entsteht eine neue Wirtschaftsform?
Die Wirtschaft und die Gesellschaft beeinflussen sich gegenseitig und Veränderungen finden nur in kleinen Schritten und wechselweise statt. Verändern wir die sozialen Beziehungen und uns selbst, dann können wir uns auch ein neues Wirtschaftssystem vorstellen. Es geht nicht darum, was die Konzerne machen, sondern darum, ob die Menschen noch in Konzernen arbeiten wollen.

Was braucht der Mensch – wirtschaftlich betrachtet – für ein gutes Leben?
Ich bin der Meinung, man sollte Wirtschaft nicht als von der Gesellschaft unabhängigen Bereich betrachten. Die Herstellung der Dinge, die wir wirklich benötigen, ist Teil unseres Lebens und in einen gesellschaftlichen Zusammenhang eingebettet. Ich kann nicht sagen, was braucht der Mensch von der Wirtschaft, sondern muss schauen, was der Mensch generell braucht. Es gibt ja nicht nur einen einzigen Typ Mensch, jeder hat unterschiedliche Bedürfnisse, die anzuerkennen sind. Allerdings sind unsere Bedürfnisse gesellschaftlich geprägt und lassen sich daher auch verändern. Ich halte es für relevant, die Verschiedenheit dieser Bedürfnisse zuzulassen, denn so wird es vielleicht möglich, mit unseren Ressourcen auszukommen. Ich zum Beispiel muss nicht fliegen und brauche kein Auto, aber dafür habe ich im Winter gerne ein warmes Zimmer. Andere Menschen dagegen möchten hin und wieder in ein Flugzeug steigen, aber es ist ihnen egal, wenn sie es nicht so warm haben.

„Es sollte eine Vielfalt an Produktionsweisen geben.“

Ändern sich gerade unsere Bedürfnisse?
Durch die Werbung werden ständig neue Bedürfnisse geschaffen. In einer Überflussgesellschaft ist das auch zwingend notwendig, damit Firmen ihre Produkte absetzen können. Bedürfnisproduktion ist ein ganz wesentlicher Faktor unserer Wirtschaft. Viele Menschen haben von dieser Bedürfnisproduktion aber mittlerweile die Nase voll. Es gibt bereits Strömungen, die eine andere Richtung einschlagen, nach anderen Qualitäten suchen – ein sogenannter Postmaterialismus. In unserer Gesellschaft leben allerdings immer noch Menschen, die berechtigterweise nach mehr streben, weil sie sich beispielsweise nicht einmal das Heizen leisten können.

Wie sollte Ihrer Vorstellung nach ein neues Wirtschaftssystem aussehen?
Es gibt drei Punkte, die als Leitlinien zur Orientierung dienen könnten, auch wenn das Ergebnis offen ist. Punkt eins: Mit den Ressourcen haushalten, damit alle genug haben. Punkt zwei: Es muss möglich sein, dass alle ihre Fähigkeiten einbringen und entfalten können. Punkt drei: Es ist dafür zu sorgen, dass alle mitreden und mitgestalten können. Das gegenwertige System ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Wir versuchen noch immer, alles nach der Marktlogik zu organisieren, dabei bieten sich verschiedene Wege an, um die Dinge herzustellen, die wir zum Leben brauchen. Für manche ist der Markt ein geeignetes Mittel, für andere ist es das Commoning, die gemeinsame Produktion. Es sollte daher eine Vielfalt an Produktionsweisen geben.

„Wichtig ist, dass die Menschen die Regeln der Commons selber definieren.“

Was sind Commons?
Eine Idealform der Commons gibt es nicht, wir kennen unterschiedliche Ausprägungen. Commons bedeuten im Grunde, dass Menschen irgendeine Ressource als so wichtig ansehen, dass sie sich selber um die Produktion kümmern und Verantwortung übernehmen wollen. Diese Ressource kann vieles sein, angefangen von Wasser bis hin zu einem Feld beziehungsweise einer Landwirtschaft, einer Software oder Internetplattform. Wir verwenden lieber das Wort Commoning, denn Commons sind kein Ding, kein statischer Zustand, sondern ein sozialer Prozess, ein Bündel an sozialen Beziehungen, welche immer in Bewegung sind. Wichtig dabei ist, dass die Menschen die Regeln der Commons selber definieren. Diese Regeln müssen für alle fair sein, dass heißt aber nicht, dass wir alle das Gleiche beitragen müssen und das Gleiche bekommen. Jeder hat andere Fähigkeiten und Bedürfnisse, die sich im Laufe des Lebens verändern. Es müssen Regeln gefunden werden, bei denen alle Menschen das Gefühl haben, das Verhältnis zwischen dem, was sie geben und bekommen, ist fair. Es muss ein Gleichgewicht vorliegen.

Können Sie uns ein Beispiel für funktionierende Commons geben?
Es gibt zum Beispiel Wald-, Alm- oder Weidegenossenschaften, die schon sehr lange bestehen und nach einem ähnlichen Prinzip funktionieren. Ein anderes Beispiel: Es gibt Wegegenossenschaften, bei denen die Bauern hoch oben am Berg wohnen und jeder von ihnen zur Erhaltung der Straße beiträgt.
Im Moment entstehen viele neue Commons, etwa solidarische Landwirtschaften, Wohnprojekte, Repaircafés, offene Bücherschränke oder offene Werkstätten. Bei den neuen Commons müssen sich die Menschen oft sehr lange zusammensetzen, um Regeln zu definieren. Regeln zu finden kann sehr mühsam sein. Alle sollen schließlich das Gefühl haben, mit diesen Commons geht es mir besser als vorher, denn nur dann zahlt sich das Engagement aus. Commons sind auch nur dann von Dauer, wenn es gute Konfliktlösungsmechanismen gibt.

„Oft entstehen Commons aus Verlust- und Konfliktsituationen heraus.“

Warum glauben Sie, dass gerade zum jetzigen Zeitpunkt so viele neue Commons entstehen?
Commons sind etwas Selbstverständliches, viele von ihnen existieren schon seit langem. Wir können zum Beispiel im Park auf einer Bank sitzen oder in Bahnhöfen Wasser trinken. Für mich waren Bahnhöfe immer Fixpunkte. Es gibt dort WCs, Wasser zum Trinken und wenn das Wetter schlecht ist, findet man Unterschlupf. Auch für Flüchtlinge oder Obdachlose sind Bahnhöfe Fixpunkte. Bei Bahnhöfen handelt es sich also um klassische Commons. In den letzten Jahren wurden jedoch zahlreiche Bahnhöfe zu Einkaufszentren umgebaut. Es gibt keine Sitzmöglichkeiten mehr. Wenn man kein Geld hat, kann man sich also nicht am Bahnhof aufhalten, weil die Konsumation im Vordergrund steht. In manchen WCs kann man das Wasser nicht mehr trinken, weil es schon mit Waschmittel versetzt aus der Leitung kommt. Immer mehr von dem, was früher selbstverständlich war, wird uns auf diese Weise weggenommen. Und genau dieses Angebot versuchen sich manche wieder zurückzuholen. Viele von uns sehnen sich nach regionalem, natürlichem Essen, aber immer mehr Biobauern müssen aufgeben, weil sie von ihrer Arbeit nicht leben können. Andere Menschen springen ein, um die Existenz der Bauern zu sichern – es bilden sich sogenannte solidarische Landwirtschaften. Oft entstehen Commons ja aus Verlust- und Konfliktsituationen heraus.

Stößt unser derzeitiges Wirtschaftssystem an seine Grenzen?
Ich glaube, das ist klar und deutlich erkennbar. Der Gedanke, dass wir etwas Neues brauchen, ist inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Würden Sie sagen, dass Tauschen und Teilen uns Menschen zufriedener macht als Konsumieren und Kaufen?
So einfach kann man das nicht sehen. Zum Tauschen und Teilen müsste noch das gemeinsame Produzieren und Nutzen hinzukommen. Manche Menschen wollen sich aber nicht ständig mit anderen absprechen, sie wollen einfach nur kaufen. Wahrscheinlich würde es uns glücklicher und zufriedener machen, wenn wir mehr Auswahlmöglichkeiten hätten. Es geht wie immer um die Vielfalt und die Möglichkeit, wählen zu können.

„Natürlich funktionieren Commons auch innerhalb des kapitalistischen Systems.“

Können Commons innerhalb des Kapitalismus funktionieren?
Natürlich funktionieren Commons auch innerhalb des kapitalistischen Systems. Aber so wie der Kapitalismus jetzt ist, so kann er auch nicht bleiben. Es wird zwar immer Märkte geben, etwa einen lokalen Bauernmarkt oder sogar einen Markt, wo wir Rohstoffe tauschen können. Diese Märkte dürfen aber nicht Wachstumsdruck, Konkurrenz- oder Expansionszwang unterliegen.

Was ist Ihr Wunsch für die Zukunft?
Ich möchte einen Weg finden, um eine Vielfalt von Möglichkeiten erhalten beziehungsweise überhaupt schaffen zu können.

Haben Sie ein gutes Leben?
Auf der einen Seite bin ich sehr zufrieden mit meinem Leben. Auf der anderen Seite habe ich das Gefühl, dass ich in Anbetracht der großen Zahl an Flüchtlingen eigentlich kein gutes Leben haben kann. Sie ziehen durch unser Land und sind in einer schrecklichen Lebenssituation. Wie gesagt: Ich bin zwar mit meinem Leben, so wie es ist, zufrieden, aber ein gutes Leben kann ich nur dann führen, wenn auch alle anderen Menschen ein solches haben.

 

Brigitte Kratzwald ist Sozialwissenschaftlerin und Commons-Aktivistin. Sie beschäftigt sich mit alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen, zum Beispiel mit solidarischer Ökonomie, Commons und Subsistenz sowie mit den Möglichkeiten sozialer Transformation. Zu diesen Themen diskutiert sie auf Podien, hält Vorträge und leitet Workshops oder Seminare.
 
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Foto © Weingartner

 

Ester Platzer

Ester Platzer

Ester Platzer, 1979, lebt in Wien und ist Mitglied der Chefredaktion bei Ursache\Wirkung. Davor lebte und arbeitete sie viele Jahre in Ostafrika. Ester absolvierte ihr Magisterstudium in internationaler Entwicklung an der Universität Wien.
Kommentare  
# Stefan Stockreiter 2016-04-11 10:00
Ohne das Bewusstsein der Menschen wird es langsam voran gehen mit dem Wandel im Wirtschaftssystem?!!!
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# Kurt Reiter 2020-09-26 15:13
Ganz klar entsprechen Commons dem natürlichen Entwicklungsweg des Menschen, doch durch strukturelle Veränderungen nicht realisierbar. Da diese wiederum nur über den vorherrschenden Marketingcharakter der Gesellschaft gestülpt werden, und sich somit auf Sicht wieder nach den kapitalistischen Gesetzen ausrichten. Einzige Möglichkeit ist nur eine Veränderung des kollektiven Bewusstseins vom rein verstandesmäßigen manipulativen Denken, wieder hin zu einem gefühlvollem, natürlichen und sinnvollem Handeln. Dann entstehen Commons ganz von selbst.
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