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Gestern war ich bei der kurdisch-syrischen Familie zu Gast, die ich fast eineinhalb Jahre nicht gesehen hatte: Zu viel war bei mir selber los, beruflich und privat, zu lang ist die Fahrt von Bonn nach Kiel und noch weiter, um mal eben für ein Wochenende einen Ausflug zu machen.

Nach einem wunderbaren, entspannten Tag mit köstlichem Essen, eher lockeren Gesprächen mit den Familienmitgliedern, je nachdem, welche Sprachkenntnisse vorhanden waren, auf Englisch oder Deutsch oder im Telegrammstil, gemischt aus den drei oder vier Sprachen – denn kurdisch ist NICHT Arabisch, lernte ich gestern, auch wenn sich beides für westliche Ohren ähnlich und ähnlich unverständlich anhört –, am Ende dieses Tages wurde mir erst der eine Brief vorgelegt, dann, behutsam, der andere.
Aha, dachte ich, nicht unerfahren in der Lektüre von unangenehmen Schriftstücken, die man schon äußerlich am Fensterumschlag erkennt und nach dem Öffnen an der Aufmachung: Lange Spalte rechts mit Telefon- und Faxnummern, Ansprechpartnern und Öffnungszeiten.
Betreffzeile fett mit Worten, bei denen man auch als Deutsche oftmals froh sein kann, wenn man sofort begreift, worum es geht.
Weiter unten eine Tabelle mit Zahlen und ein fett ausgeworfener Betrag verheißen nichts Gutes. Datum. Auf der Rückseite eine Rechtsbehelfserklärung mit Datum.
Zweites Aha: Wir sind noch in der Zeit. Sowohl, was die Überweisung als auch, was den Widerspruch angeht.
Es handelt sich um eine Stromkostennachzahlung gewaltiger Höhe. Wie kommt das? Die monatlichen Abschläge sind viel zu niedrig, die müssen hochgesetzt werden. Ratenzahlung vereinbaren, und vielleicht kann ja noch eine Institution etwas dazugeben. Dass das Geld hinten und vorne nicht reicht, kann man sich ja denken. Schon Busfahrkarten nach Kiel, zum Arzt oder in die Bücherei oder mal zur Freude, stellen eine Herausforderung dar für eine vierköpfige Familie, von denen keineR Geld verdient. Niedrigverdiener kommen eher noch zu Besuch.
Die Mutter nicht, die hat genügend zu tun, ihre Familie von dem Geld einzukleiden und zu bekochen: ein Kunststück, das allerhöchste Achtung verdient. Sie hat ein kaputtes, wehes Knie und scheut sich, die wohl notwendige Operation – bezeugt von mehreren Ärzten – in Angriff zu nehmen. Übrigens hat sie sieben Kinder, von denen vier in Norddeutschland, eines in Syrien und zwei im Irak leben. Alle sind geflüchtet und haben zum Teil Grässliches erlebt, von dem ich nur einen Bruchteil erfahren habe.
Alle gehen zur Schule, was bedeutet, dass das Deutsch sich gravierend verbessert hat. Bei allen. Aber bei allen unterschiedlich. Am sprachbegabtesten ist wahrscheinlich Nor, die nach nur zwei Jahren Deutsch fast akzentfrei sprechen kann. Sie kann Englisch auch sehr gut, sorgte als Zwölfjährige für die ganze Familie, im Flüchtlingscamp in Piräus, wo ich sie im Mai 2016 in einem Zeltkreis inmitten Hunderter anderer Zeltkreise kennengelernt hatte. Ein aufgewecktes Mädchen, das sich HelferInnen wie mich regelrecht schnappte und diese ihrer Familie zuführte. Der grandiosen Gastfreundschaft von Syrern sollte ich bald noch öfter begegnen ...
Nor klagte, dass sie nun als Vierzehnjährige im siebten statt im neunten Schuljahr sei – sie müsse so viel aufholen ... Dafür ist sie eine sehr gute Schülerin geworden.
Aber auch der jetzt 22-jährige Abdullah ist zu loben: Auch er sprach schon gut Englisch, als ich in den Kreis der muslimischen Großfamilie aufgenommen wurde, und sorgte wach und empathisch für die Übersetzungen kreuz und quer, über Kaffee- und Teegläschen hinweg. Er ist erst ein Jahr in Deutschland, musste sehr gute griechische Freunde zurücklassen, mit denen es sich leben – er war auch auf Samos und Santorini –, aber nicht arbeiten ließ. In Griechenland gibt es keine Perspektive und keine Familie, denn die war ja inzwischen, nach und nach, mit hohen finanziellen Opfern, nach Deutschland aufgebrochen.
Abdullah ist niedergeschlagen von dem Pensum, das er bewältigen muss, an der Schule mit Deutsch und in der ‚Maßnahme‘, wie er sie nennt, ohne Ferien zu bekommen. Als über 18-Jähriger durfte er nicht mehr direkt zu seiner Familie ziehen, sondern lebt in Hamburg in einem Heim. Sein Deutsch sei großartig, sagte ich ihm, ohne zu lügen, nach nur einem Jahr. Als ich das letzte Mal hier war, im März 2017, konnten wir uns nur auf Englisch unterhalten – und mit den Eltern gar nicht. Jetzt verstehen auch die Eltern ungefähr, wovon wir sprechen.
Der Vater sucht seit drei Jahren eine Arbeit – vergebens. In Hamburg hätte es schon zweimal geklappt, aber soll er sich dort ein Zimmer nehmen?
Ali ist der Jüngste im Bunde, ich weiß sein Alter gar nicht. Zwölf, dreizehn? Ein unglaublich gescheites Kerlchen, kam gerade aus Athen, als ich im vorigen Jahr meinen ersten Besuch abstattete. Er redet fast nichts, scheint aber alles zu verstehen, weil er oft sehr witzige, treffende Kommentare abgibt, von seinem Smartphone nicht aufblickend. Er trägt eine wilde, schwarze Lockentolle und macht ein Praktikum bei einem Friseur. Natürlich geht auch er zur Schule.
Der Vater führte auch schon im vergangenen Jahr ein Vokabelheft; er liest sehr viel, schlägt Wörter nach, die er nicht kennt, redet wenig. Früher habe er sehr viel gesprochen, hätte große Verantwortung gehabt als Zimmermann für ein Unternehmen. Er hat dreimal B1 nicht geschafft, eine so schwierige Prüfung, dass ich ehrlich bezweifle, ob ich sie bestehen würde, mit all den politischen Fragen. Wir hatten zusammen geübt, im März 2017. Alle syrischen Freunde, die ich habe, in Bonn und hier, bei Kiel, haben oder hatten gerade mit B1 zu tun.
Ich kenne niemanden aus Syrien, der oder die faul auf der Haut liegen würde.
Ich nahm beide Formulare mit und telefonierte heute Morgen mit dem Sozialamt. Wie im vergangenen Jahr, als ich wegen des Kindergeldes für Ali mit Nor zum Amt ging, war es für mich leicht, mich auszudrücken und gehört zu werden. Die Angestellten sind meist froh und freundlich, wenn sie sich selber verständlich machen können.
In zehn Minuten erfuhr ich: Am besten selber kommen, morgen oder am Donnerstag. Ratenzahlung: Kein Problem. Eventuell ein Zuschlag? Versuchen, gegenüber beim Jobcenter.
Den monatlichen Abschlag auf Stromkosten höher setzen? Kein Problem, wird sofort gemacht.
Die Anmeldung zur ‚Wohnschulung‘? Wird entgegengenommen. Was ist das?
Kann Frau Muhmad einen Übersetzer an die Hand bekommen, der mit ihr zum Arzt geht? Ihr dadurch, dass sie selber nachfragen und ihre Bedenken äußern kann, die Angst nimmt?
Leider nein. Solange sie beim Sozialamt war, wäre das gegangen.
Seit aber die Gelder über das Jobcenter gezahlt werden, wird kein Übersetzer mehr zur Verfügung gestellt???
Soll das wieder die vierzehnjährige Nor übernehmen, die noch zu jung ist, die wesentlichen Fragen zu stellen und die vor allem mit ihrer Schule selber bis an den Anschlag gefordert ist? Sie musste jetzt noch Französisch dazunehmen ...
Es gäbe ja dieses ehrenamtliche Info-Café, wo man mal fragen könnte ...
Okay. Vielen herzlichen Dank. Ich gehe am Donnerstag mit: Zum Sozialamt, zum Jobcenter gegenüber, nachmittags zum Info-Café.
Wann werden wir hier begreifen, dass amtliche Vordrucke, die alle juristisch bindend sind, in die Sprache der Geflüchteten übersetzt werden sollten, nicht als extra Serviceleistung, sondern als völlig normal-menschliche Leistung, die wir den Fremden in unserem Land, von denen wir Respekt, Anpassung, Integration fordern, wie eine Selbstverständlichkeit zukommen lassen. KeineR von ihnen wollte jemals sein/ihr Mutterland und alles Liebgewordene verlassen.

Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.

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Monika Winkelmann

Monika Winkelmann

Monika Winkelmann, geboren 1952, Mutter einer erwachsenen Tochter, geschieden seit 2019, hat 1980 mit 28 Jahren ihr erstes Meditationswochenende in Hamburg besucht. Diese tiefgreifende Erfahrung sowie ihr Leben als Alleinerziehende der Tochter Lisa, geb. 1984,  bewirkten, dass sie viele Jahre a...
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