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Achtsamkeit & Meditation

Nichts im Leben ist selbstverständlich. Denk nicht so oft an das, was dir fehlt, sondern an das, was du hast. 

Einmal in der Woche übernachte ich in meiner Praxis. Einmal in der Woche nicht die Stille unserer neuen Heimat, Forchtenstein, wo uns ein altes Stein-Lehmhaus gefunden hat, am Berg, unweit der Burg, eingehüllt in die laute Stille der Natur; hinter dem Haus der Wald, der den Wind einfängt, im Garten die Grillen, die mit dem Wind um die Wette singen. Einmal in der Woche bin ich in Wien über Nacht, mit Findus, meinem treuen hundischen Gefährten, der mich hinaustreibt unter Menschen, in den unweiten Park, der nach dem Maler Waldmüller benannt ist. Einmal in der Woche beeilt sich Findus durch die Hundezone, schnell an all den Gerüchen vorbei, das artgenössische Rudelverhalten mit aufgestellten Nackenhaaren ertragend, um nur ja schnell die Erleichterung seiner Bedürfnisse hinter sich zu bringen – und uns wieder in die Praxisräume hinein. Einmal in der Woche verstecken wir Provinzler uns schnell wieder in der Stille der geschlossenen vier Wände, zwingen uns zum Ruhen nach dem anstrengenden Arbeitstag, als Vorbereitung für den kommenden. Einmal in der Woche wird mir die Enge der an sich geräumigen 89 Quadratmeter der Praxis in Wien-Favoriten bewusst und noch überdreht nach der schnellen Hunde-Runde komme ich langsam runter, werden meine Runden, die ich in der Praxis drehe, um auf- und nachzuräumen, um den ‚Übernachtungsraum‘ halbwegs gemütlich zu zaubern, die Geister des Tages zu vertreiben, den stechenden Geruch von Desinfektionsmittel durch Duft von wiederum desinfizierendem Räucherzeug zu ersetzen, kleiner und immer kleiner. Findus liegt bereits an seinem Platz und sieht mich mit großen Augen an. Ein kurzes Brummen von ihm, dann legt sich auch sein Kopf und die Augenlider verschließen seine letzte Unruhe. Einmal in der Woche reißt mich die Übernachtung in Wien aus der abendlichen Routine, meine Frau und meine Kinder in die Arme zu nehmen, das Geschehene des Tages durchzukauen, zu lachen und zu blödeln, dann vielleicht noch gemeinsam etwas zu essen, dann vielleicht noch mit Lena und den beiden Hunden eine Runde durch die Stille des Berges zu drehen, die Kinder anschließend niederzulegen und danach in der Stille des Hauses die ersehnte Zweisamkeit mit Gabriele, meiner Frau, zu genießen. Einmal in der Woche sitze ich abends in meiner Praxis, nichts mehr zu tun, bis ich zum Sofa gehe, vor mich hinstarre und mir des Lärms meines Lebens und der Notwendigkeit der Stille bewusst werde. Und wenn dann auch noch mein Hormonspiegel langsam auf Ruhemodus umschaltet, meine Stresshormone runterfährt, die mich durch den Tag gepeitscht haben, bleibt als Geräusch vom Tag nur noch ein leises, hohes Surren im Ohr und ein tiefes Brummen vom Verkehr vor den Fenstern, und der richtige Moment beginnt, um über Dinge nachzudenken und Artikel wie diesen zu schreiben.
lebenNichts ist selbstverständlich! Nicht das Aufstehen in der Früh, nicht das Lächeln, das sich einstellt, wenn mein Geist erwacht, wenn ich an das Leben denke, das ich führen darf. Nichts ist selbstverständlich: dass ich mir einen gekochten Morgenbrei zubereite, um meinem Körper schon in der Früh viel positive Energie zu geben, dass ich mich anschließend bewegen darf und kann, mit Yoga auf der Matte meinen Körper durchwalke und verrenke, um ihn geschmeidig zu halten. Es ist nicht selbstverständlich, dass mir dabei nichts wehtut, und falls mir etwas wehtut, dass ich es dann wieder mit den paar Übungen in den Griff bekomme. Es ist nicht selbstverständlich, dass ich das Wissen um einen gesunden Körper habe, dass ich weiß, wie ich mir und anderen helfen kann, wenn das Leben Leid für sie und mich bereithält. Was für ein Geschenk ist es, mit dem Wissen, dass mir mein Leben geschenkt hat, andere zu beschenken und sie ein Stück ihres irdischen Lebens begleiten zu dürfen. Es ist nicht selbstverständlich, dass sich Menschen an mich wenden, dass sie mir glauben, was ich ihnen zu sagen habe, und dass sie mir und ihrer Behandlung durch mich als Arzt Vertrauen entgegenbringen.
Es ist nicht selbstverständlich, dass ich die Wahl habe, dieses Leben zu führen oder ein anderes, dass ich jeden Tag von Neuem mich fragen kann, ob ich wirklich so leben möchte oder ob ich etwas ändern möchte, für mich, meine Frau, meine Kinder. Und es ist nicht selbstverständlich, dass ich es einfach ändere, wenn ich zu der Überzeugung gelangt bin, dass es einen besseren Weg als den eingeschlagenen gibt, dass die Kinder zum Beispiel in eine andere Schule gehen sollen, dass wir unsere Praxis zum Beispiel verlegen sollen, dass Entscheidungen einfach getroffen werden können ohne langwieriges Hadern mit dem Schicksal, mit dem Leben. Es ist nicht selbstverständlich, dass ich meine Frau habe, dass wir zwei gesunde Kinder haben, dass wir ein Haus haben und eine gute Arbeit, die auch noch Gutes hervorbringt. Es ist nicht selbstverständlich, dass Findus bei mir ist. Eigentlich wäre er schon längst getötet worden, wenn es da nicht Menschen gäbe, die schauen, dass Hunde aus Tötungsstationen doch noch eine Lebensberechtigung erhalten. Auch wenn es für uns so selbstverständlich ist wie das Atmen, ist es nicht selbstverständlich, dass bei uns Frieden herrscht, dass wir nicht verfolgt werden und dass wir genügend zu essen haben, dass wir unsere Wohnung einheizen können, dass wir Wasser haben zum Trinken und zum Waschen. Eigentlich ist gar nichts selbstverständlich. Und schon gar nicht ist es selbstverständlich, dass wir morgen noch leben.
Aber warum ist das so? Warum gewöhnen wir uns so schnell an alles? Warum sehen wir nicht mehr, dass die Sonne täglich aufgeht? Warum fehlt uns der Blick auf das Glück in der Welt? Was ist für Sie jeden Tag selbstverständlich? Was hinterfragen Sie schon deshalb nicht mehr, weil es schon so lange so geht, weil der Gedanke an Veränderung schon so lange her ist, dass er schon nicht mehr wahr erscheint? Wie schaffen Sie es, sich Ihres Lebens und Ihrer Lieben bewusst zu sein? Wie schaffen Sie es, täglich aufs Neue aufzustehen, Ihren Tag zu leben und glücklich zu sein? Verzeihen Sie die Fragen und all die Überlegungen. Aber so etwas schießt mir durch den Kopf, wenn ich hier an meinem Schreibtisch in der Praxis sitze, nach dem langen Arbeitstag, fern meinem Zuhause. Ich brauche diese Stille und ich muss mich der Stille stellen, um auch Fragen zuzulassen, die ich sonst im Alltag unterdrücke. Der Lärm der Welt, unserer Welt, unseres Alltags, unserer täglichen Tätigkeiten, der äußere und der innere Lärm verhindern meist solche Überlegungen. Es ist nicht selbstverständlich, dass man sich solche Fragen stellt, dass man sich der Stille jenseits des Lärms stellt. Aber WENN, wenn Sie es zulassen, wenn Sie beginnen zu hinterfragen, ob oder warum oder warum schon immer oder warum nicht, dann ist das vielleicht der Anfang eines neuen, bewussteren Lebens, in dem SIE die Fragen stellen, in dem SIE sich bewusst machen, was wichtig ist und was nicht, was für Ihr Leben richtig ist oder nicht. Vielleicht ist dann auch gar nichts mehr selbstverständlich: nicht, dass Sie zu essen haben, nicht, dass Sie eine Wohnung haben, nicht, dass Sie eine Arbeit haben, nicht, dass Sie nicht alleine sind, nicht, dass Sie immer Hilfe bekommen können.
Dazu eine kleine Geschichte: Es lebte einmal ein Mann in Wien. Aufgewachsen ist er in einem Waisenhaus, ohne Eltern, da er als Baby kurz nach seiner Geburt ausgesetzt worden war. Das Schicksal meinte es zunächst nicht wirklich gut mit ihm. Er kam von einer Pflegefamilie zur anderen, doch konnte er meist nie lange bleiben, weil immer etwas passierte: Leider ging es da auch um Misshandlung und Vernachlässigung. Doch mit 14 Jahren wendete sich sein Schicksal. Er kam wieder einmal zu einer neuen Pflegefamilie. Doch diesmal meinten es seine Pflegeeltern wirklich gut mit ihm und zum ersten Mal im Leben fühlte er sich geborgen und daheim. Als er 18 Jahre alt war, starb sein Pflegevater an einer schweren Krankheit. Er tröstete seine Pflegemutter und dankte dem Schicksal, dass er vier Jahre lang so einen wunderbaren Vater gehabt hatte. Seine Pflegemutter hatte nicht viel Geld, doch ermöglichte sie ihm eine gute Ausbildung und unterstützte ihn, wo es nur ging. Er wiederum war fleißig in seinem Beruf und konnte bald voller Dankbarkeit auch seine Pflegemutter finanziell unterstützen. Mit 23 Jahren begegnete er der Liebe seines Lebens. Sie heirateten und hatten vier Kinder. Seine Pflegemutter lebte bei ihnen in der Wohnung, damit sie nicht so alleine war. Er konnte teilweise sein Glück nicht fassen, so groß war es, und er dachte oft, er hätte dieses wunderbare Leben doch gar nicht verdient. Nach ein paar Jahren verstarb der jüngste Sohn durch einen Unfall. Die ganze Familie litt unter dem tragischen Verlust. Und wieder war er es, der alle stützen konnte, der von dem großen Glück reden konnte, dass sie alle diese wunderbare Zeit mit dem Sohn gehabt hatten. Die Jahre vergingen und es waren gute Jahre. Doch eines Tages erkrankte seine Frau an Brustkrebs. Und zehn Jahre lang hatte man die Erkrankung im Griff, doch dann verstarb auch sie. Und er dankte seinem Schicksal, dass er seine Frau so viele Jahre gut begleiten konnte und dass er so viele wunderbare Jahre mit ihr verbracht hatte. Auch wenn er sie unendlich vermisste, so waren seine drei Kinder und seine Pflegemutter immer bei ihm. Er ging in Pension und bald darauf erlitt er einen Schlaganfall. Und er war glücklich, dass nur seine linke Hand gelähmt war und dass das Sprechen nach einiger Zeit auch wieder recht gut funktionierte. Er bekam acht Enkel und so gut er konnte, war er immer für sie da. Mit 80 Jahren ging es ihm gesundheitlich schon sehr schlecht. Und er war so glücklich, dass seine ganze Familie bei ihm war, als er schließlich starb ...
Nichts ist selbstverständlich. Darf ich Sie zu einer kleinen Hausübung überreden? Gehen Sie einmal gedanklich durch Ihren Tag, durch jede kleine Handlung, durch jede kleine und große Begegnung. Dieser eine Tag ist Ihr ganzes Leben! Machen Sie sich jede Ihrer Handlungen bewusst, jeden Ihrer Gedanken und nehmen Sie nichts als selbstverständlich. Und? Sind Sie eine Beschenkte, ein Beschenkter?
Mittlerweile ist es draußen ganz still geworden. Ich werde mit Findus noch eine Runde durch den Waldmüllerpark drehen, langsamen Schrittes, bevor ich mich aufs Sofa zum Schlafen lege und auf das Erwachen an einem neuen Tag mit dem Wiedersehen meiner Familie freue ...

Ihr
Kräuterdoktor Weidinger

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Bilder © pixabay

Dr. Georg Weidinger

Dr. Georg Weidinger

Georg Weidinger geboren 1968 in Wien, studierte Medizin an der Universität Wien, Doktorat 1995, Traditionelle Chinesische Medizin und Akupunktur (unter anderem bei Dr. François Ramakers, Prof. Dr. med. et Mag. phil. Gertrude Kubiena, Dr. Gunter R. Neeb), Diplom 2003, klassisches Klavier und Kompos...
Kommentare  
# Ruth 2019-04-03 09:30
Lieber Herr Weidinger, ihre Beiträge sind immer so inspirierend. Vielen Dank.
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