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Achtsamkeit & Meditation

Der französische Molekularbiologe und buddhistische Mönch Matthieu Ricard über die Wissenschaft vom Geist, die Gemeinsamkeiten zwischen Psychoanalyse und buddhistischer Einsichtsmeditation und die Wirkweise von Karma.

Sie betrachten Buddhismus als Wissenschaft vom Geist – was ist Geist?
Im Buddhismus bezieht sich Geist auf den dynamischen Fluss von Erfahrungen. Man verwendet nicht viele unterschiedliche Begriffe. Was es nicht gibt, ist so etwas wie eine Seele, die als unabhängige Einheit existiert. Geist und Bewusstsein bezeichnen das Gleiche. Der Geist ist nichts Mysteriöses. Es gibt natürlich ein Element des Unbekannten, aber einfach ausgedrückt, ist Geist lediglich der Fluss von Erfahrungen – also ein Phänomen, dem man nahekommen kann. Sich aneinanderreihende Momente von Erfahrungen, welche das Bewusstsein bilden, und das Kontinuum dieser Erfahrungsmomente, das ist Geist. Der Geist ist plastisch, er kann trainiert werden. Er hat Inhalte – die können giftig sein, wie Eifersucht oder Hass, oder aber konstruktiv, wie liebendes Mitgefühl und innerer Friede, Freiheit. Der Geist kann verwirrt sein, er kann in die Irre geführt werden und er kann erweckt werden. Der Fluss des Geistes lässt sich wie Wasser filtern, man kann die Qualität des Wassers mit medizinischen Pflanzen anreichern oder es mit toxischen Substanzen belasten. Ein erleuchteter Geist ist frei von Verwirrung, von Hass, Eifersucht, Sehnsucht, von all dem, was einem Leiden verursacht und auch anderen Leiden bringt.

 

„Karma ist Ursache und Wirkung, angewandt auf Leid und Glück, bestehend aus Motivationen, Worten und Taten."

 

Was kann der Buddhismus von der Modernität lernen?
Wir können von allem lernen. Lernen bedeutet zunächst, dass man das Geschehen beobachtet. Man betrachtet, wie Menschen auf verschiedene Arten versuchen, Glück zu finden. Manchmal gelingt es, manchmal nicht. Oft scheint es der Fall zu sein, dass wir es suchen, wo es nicht ist. Wir sehnen uns nach Glück, wenden ihm jedoch den Rücken zu. Man will Unglück vermeiden, tatsächlich rennt man direkt darauf zu. Aber das ist nicht neu, nicht ‚modern'. Das passiert jedem Lebewesen. Darin genau besteht das Drama, und es gibt Gründe für dieses Fehlverhalten, die sich analysieren lassen. Man kann nun versuchen, den Mechanismus von Glück und Leid besser zu verstehen. Die Ursachen von Leid sind nicht vom Himmel gefallen, sie selbst sind aufgrund vieler Umstände und Bedingungen entstanden. Sie sind vergänglich, also kann man an ihnen arbeiten, und damit besteht die Möglichkeit, sie loszuwerden. Es gibt einen Weg der Transformation aus dem Leiden heraus.
Wenn man unter Modernität Technologie versteht, dann kann ein Austausch einen großen Beitrag zur Gesellschaft leisten, wie die Zusammenarbeit von Meditierenden und Neurowissenschaftlern beweist, die von Professor Tania Singer initiiert wurde. Die Technologie lieferte überraschende Erkenntnisse über die Unterschiedlichkeit der Geisteszustände Empathie und liebevolles Mitgefühl. Dadurch lassen sich empathiebedingte Burn-out-Syndrome in Pflegeberufen vermeiden, indem man das neurologisch ganz anders gelagerte liebevolle Mitgefühl als natürliche geistige Kraftquelle nutzt, die den Pflegenden in Form von menschlicher Wärme und einem guten Herzen vor Stress schützt und dem Patienten ebenfalls zugutekommt. Empathie allein reicht nicht, sie braucht diesen Puffer-Effekt, den die Erzeugung von Liebe und Mitgefühl auch physiologisch bedeutet. Entdeckt wurde dies mit Hilfe von buddhistischen Praktizierenden durch eine fruchtbare Kooperation mit weltweit führenden Forschern und ihren High-Tech-Scannern. Hier haben wir ein gutes Beispiel, wie die Kombination von uralter Weisheit und Modernität der Menschheit dienen kann.

 

„Die Technologie lieferte überraschende Erkenntnisse über die Unterschiedlichkeit der Geisteszustände Empathie und liebevolles Mitgefühl."

 

Liegt Karma in den Genen? Ist die moderne Vererbungslehre mit Karma in Bezug zu setzen?
Karma ist ein häufig missverstandenes Wort, es bedeutet nicht Bestimmung. Karma bedeutet Tat. Es beschreibt einen besonderen Aspekt des natürlichen Gesetzes von Ursache und Wirkung, das überall zu finden ist. Man lässt einen Gegenstand los und er fällt herunter. Karma ist gewissermaßen eine Subkategorie des Prinzips von Ursache und Wirkung, die aus Absichten, Handlungen und ihren Resultaten besteht. Ich schenke Ihnen etwas, das ist eine Handlung. Wenn ich Ihnen etwas schenke, weil ich Sie betrügen und beeindrucken will, damit Sie mir vertrauen, um anschließend Ihr Bankkonto zu plündern, dann wäre das eine negative Absicht, nicht wahr? Das Resultat wäre Diebstahl. Aber Diebstahl bleibt nicht ohne Folgen. Zunächst einmal würde ich, nachdem ich Sie so geschädigt habe, eine gewisse Befriedigung über den geglückten Coup empfinden. Aber tief im Inneren, wie könnte ich da im Reinen mit mir selbst sein? Ich habe jemanden tief verletzt. Wenn ich nicht gerade ein gestörter Psychopath bin, gäbe es da keine Grundlage, die dazu führen könnte, mich positiv zu entwickeln – auch wenn ich etwas reicher würde und mich das kurzfristig freute. Dies nur als Beispiel für die Verbindung von Absichten, Gedanken und ihren Resultaten in Form von Glück oder Leid, die Karma ausmachen. Karma ist Ursache und Wirkung, angewandt auf Leid und Glück, bestehend aus Motivationen, Worten und Taten. Auf die jetzige Lebenszeit bezogen wird eine ähnliche Auffassung von vielen geteilt, auch von anderen spirituellen Traditionen. Die Lehre vom Bewusstsein als einem Kontinuum, welches über dieses Leben hinausreicht, das ist, was den Buddhismus unterscheidet. Dieser Punkt, dass der Einfluss der Gesetze von Ursache und Wirkung sich weiter erstreckt als auf die beschränkte Anzahl von 80 oder 90 Jahren dieser Lebensspanne, macht eine Besonderheit des Buddhismus aus. Dem würden viele Wissenschaftler nicht folgen. Davon abgesehen kann wohl jeder die allgemeinen Thesen bezüglich Karma akzeptieren.

 

„Der Geist ist plastisch, er kann trainiert werden."

 

Zu den sieben buddhistischen Erleuchtungsgliedern gehören Begriffe wie ‚Untersuchung' und ‚Achtsamkeit', also sehen, was ist. Besteht hier ein Bezug zur Wissenschaft?
Mir ist nicht ganz klar, was mit den ‚Sieben Gliedern' genau gemeint ist, da gibt es so viele unterschiedliche Aufzählungen – ich wurde auch schon oft nach den ‚Sieben Tibeter' genannten Yoga-Übungen gefragt, davon hatte ich wirklich noch nie gehört. Untersuchung entspricht exakt dem, was Wissenschaft darunter versteht. Achtsamkeit hat verschiedene Aspekte. Neuerdings wird sie in säkularem Kontext gelehrt, in Krankenhäusern oder in der Geschäftswelt. Im Buddhismus hat sie eine weitergehende Konnotation. Sie ist nicht bloß ein Gewahrsein des gegenwärtigen Augenblicks, dessen, was man sieht oder erfährt, sondern auch das Bewusstsein über das Heilsame oder Unheilsame eines Gedankens. Es ist eine Leistung, sich durch Achtsamkeit bewusst zu sein, dass man hasst. Weil Hass sich zerstörerisch auf das eigene Leben und das der anderen auswirkt, sollte man auch achtsam darauf sein, das richtige Gegenmittel zu kennen und es anzuwenden. Diese Bedeutung von Achtsamkeit bleibt oft außen vor, wenn sie bloß als geistige Technik erläutert wird. Wenn man sich mit dem Hass nicht identifiziert, den man empfindet, kann er zwar verblassen, aber das ist heikel. In den meisten Fällen kommt man nicht darum herum, aktiv Gegenmittel gegen negative Geisteszustände anzuwenden, man kann es nicht einfach dabei belassen, sich ihrer bewusst zu sein. Als perfekter Beobachter tappt man natürlich nicht in die Falle des Hasses. Für die individuellen Dispositionen und entsprechenden geistigen Bedürfnisse der Menschen lehrt der Buddhismus jedoch unterschiedliche Hilfen, und Gegenmittel wirken grundsätzlich sehr effektiv.

 

Matthieu Ricard

 

In der buddhistischen Terminologie besteht der Mensch aus Geist und Körper, wobei dem Geist die höhere Bedeutung zukommt: ‚Alle Dinge gehen vom Geist aus.' Die ‚abendländische Methode' zur Erforschung des Geistes ist die Psychoanalyse, die buddhistische sind Einsichtsmeditation und Achtsamkeit. Wo überschneiden sie sich? Wo liegen ihre Grenzen?
Die westliche Methodik, die den buddhistischen Ansätzen, wie mit Emotionen umgegangen wird, am ehesten entspricht, ist die ‚Kognitive Therapie'. Persönlich führte ich Gespräche mit Aaron Beck, dem maßgeblichen Entwickler dieser Therapie, den die Ähnlichkeiten stark interessierten, auch wenn wir unterschiedliches Vokabular für die gleichen Inhalte verwenden. Er schrieb einen Artikel dazu in einer Fachzeitschrift, in dem er die Gleichheit beider Ansätze bei der Behandlung der Gefühle betont – zu betrachten, wie sie sich von Moment zu Moment wandeln, sie zu identifizieren und sie, so wie sie aufkommen, auch wieder verschwinden lassen – alles sehr ähnlich. Damit kann ich mich anfreunden. Unter all den vielen Therapien steht diese, glaube ich, am meisten im Einklang mit den geschickten Mitteln, die ein buddhistischer Praktizierender im Umgang mit seinen Emotionen übt. Er unterdrückt sie nicht, er lässt nicht zu, dass er ihretwegen explodiert, sondern er oder sie geht intelligent mit ihnen um. Viele andere Therapieansätze des Westens, wie etwa die Psychoanalyse, stehen dem Buddhismus dagegen meiner Meinung nach vollkommen fern.

 

„Phänomene erscheinen, aber sie sind leer von Eigen-Existenz."

 

Im Buddhismus gibt es den Begriff der Leerheit aller Dinge, und zwar in einer Doppelnatur der Phänomene (‚Leerheit ist Form und Form ist Leerheit' steht im Herz-Sutra). Ist das mit Wissenschaft kompatibel und kommt die Teilchenphysik zu ähnlichen Ergebnissen?
Das muss korrekt verstanden werden, da gibt es keinerlei Doppelnatur. Leerheit bedeutet: leer von einer dauerhaften, autonomen, inhärenten Existenz. Die Leerheit eines Wasserglases ist nicht die Abwesenheit eines Wasserglases. Sie bedeutet nur, dass das Wasserglas nicht eine dauerhafte, feste, unabhängige Einheit bildet. Es ist vergänglich, besteht in Abhängigkeit, und es existiert nicht so, wie es erscheint. Es ist leer davon, so zu sein, wie es erscheint. Das Gleiche gilt für das Selbst. Wir fühlen uns, als sei unser Selbst ziemlich das gleiche Selbst wie zu der Zeit, als wir Kind waren. Darauf beziehe ich mich, identifiziere mich damit. Mein Selbst ist eins, autonom und abgegrenzt, während das Bewusstsein tatsächlich ein unaufhörlicher dynamischer Strom ist, der sich permanent wandelt. Daher sind das Selbst und das Bewusstsein ebenfalls leer von einem fixen, dauerhaften Eigen-Sein. Und so sagt man: Phänomene erscheinen, aber sie sind leer von Eigen-Existenz. Weil sie so sind, können sie überhaupt erscheinen. Besäßen Phänomene eine dauerhafte Eigen-Existenz, nichts würde funktionieren Es gäbe keine Entwicklungen, kein Verhältnis von Ursache und Wirkung und das Universum wäre für immer eingefroren. Hier bestehen keinerlei Widersprüche zu den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Insbesondere entspricht Interdependenz den neueren Theorien der Nicht-Lokalisierbarkeit von Elementarteilchen und ihren Eigenschaften, die Einstein, obwohl er sie nicht mochte, vorhergesagt hat. Es handelt sich um die Beobachtung, dass bei zwei atomaren Partikeln, obwohl sie unendlich weit voneinander getrennt sind und nicht direkt kommunizieren können, sich eine Einwirkung auf eine Partikel auch bei der anderen als Effekt nachweisen lässt und dass beide am Ende in gleicher Weise kollabieren. Das deckt sich erstaunlich mit buddhistischen Aussagen zum Bestehen in Abhängigkeit.

 

„Die westliche Methodik, die den buddhistischen Ansätzen, wie mit Emotionen umgegangen wird, am ehesten entspricht, ist die ‚Kognitive Therapie'."

 

Gary Zukav fordert in seinen ‚Tanzenden Wu Li Meistern', an jedem Lehrstuhl für moderne Physik sollte auch Buddhismus gelehrt werden. Ist das überzogen?
Nun, das wird wohl leider nicht passieren.


Die westliche Kultur und Wissenschaft haben den Buddhismus beeinflusst. Wie wird das umgekehrt sein?
Das passiert bereits. Die Arbeit des Mind and Life-Institutes, die Förderung der Erforschung kontemplativer Techniken und buddhistischer Aussagen über das Phänomen Geist, ist da das beste Beispiel. Und es gibt viele weitere wunderbare Unternehmungen des Austausches zwischen Buddhismus und Wissenschaft in beide Richtungen.

 

Matthieu Ricard arbeitete als Forscher auf dem Gebiet der Molekularbiologie, ehe er seine Berufung zum Buddhismus erkannte. Seit 25 Jahren lebt er als buddhistischer Mönch in den tibetischen Klöstern des Himalaya. Er übersetzt Werke aus dem Tibetischen und ist der offizielle Französischübersetzer des Dalai Lama.
 
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Kommentare  
# Patrick Ziemke 2016-11-22 22:38
Die Unterscheidung zwischen Empathie und liebevollem Mitgefühl war mir neu. Habt ihr dazu noch nähere Erläuterungen parat zufällig?
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