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Leben

Mark Williams, Professor der Klinischen Psychologie an der Universität Oxford, spricht über die achtsamkeitsbasierende kognitive Therapie (MBCT), den therapeutischen Effekt bei chronischen Depressionen und welche Rolle dabei der Buddhismus spielt.

Welchen therapeutischen Effekt sehen Sie in der Achtsamkeitsmeditation?

Achtsamkeitsmeditation wird zurzeit in vielen Bereichen angewendet. Im Westen begann es damit, dass Jon Kabat-Zinn anfing, diese Methode zur Behandlung von chronischen Schmerzen zu testen. Kurz darauf weitete sich das Spektrum enorm aus und man setzte sie für säkulare Zwecke ein. In den 80er Jahren veröffentlichte er im amerikanischen Magazin ‚Psychatrie' eine umfassende Studie dazu. Da ich mich für die psychologischen Auswirkungen interessierte, bat ich Jon Kabat-Zinn, mich mit dem Themengebiet vertraut zu machen. Vor allem wollte ich wissen, ob sich Achtsamkeit auch zur Vorbeugung von Depressionen eignen würde. Wir fanden Erstaunliches heraus: Besonders in den heiklen Fällen, in denen Menschen schon bis zu drei depressive Verläufe in ihrem Leben hatten, wirkte sich Achtsamkeit äußerst positiv aus. Das Risiko eines weiteren Rückfalles für die nächsten zwölf Monate sank um die Hälfte. Nach dieser sensationellen Entdeckung widmeten wir uns Hypochondern, die ständig in einem quälenden Zustand der Angst leben. Auch hier konnte Achtsamkeit dieses Leid lindern. Aufgrund dieser Offenbarung wird Achtsamkeitsmeditation bei Phobien aller Art, Angstzuständen und Panikattacken als Linderung eingesetzt.

 

„In der kognitiven Therapie wird eine neue Art der Reaktion auf negatives Denken gelehrt."

 

Wie sieht Ihr Programm genau aus?

Es ist ein achtwöchiges Programm, basierend auf der Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT). Zu Beginn führt jeder Teilnehmer ein Einzelgespräch mit dem Lehrer. Sie werden von Ärzten, Kliniken oder Beratungsstellen geschickt oder kommen von allein und erzählen zunächst ihre persönliche Geschichte. Der Lehrer informiert sie dann, worum es in dem Programm geht und was sie erwarten können. Dann besuchen sie für rund zweieinhalb Stunden pro Woche einen Unterricht in Gruppen von 10-15 Teilnehmern für die Forschung. Sie erhalten dann in jeder Woche eine neue Meditationsaufgabe, die gemeinsam geübt wird und mit der sie daheim unterstützt von CDs oder Downloads weiterarbeiten können. Dabei durchlaufen sie eine vorgegebene Struktur. In der ersten Sitzung lernen die Teilnehmer, ihre alltäglichen Routinen zu hinterfragen. Da die Menschen oft mehr Zeit in ihrem Kopf verbringen als in ihrem Körper, versuchen wir, die Achtsamkeit ganz auf den Körper zu richten. Die Lektion der dritten Sitzung ist, mit den Gedanken in der Gegenwart zu bleiben. Daraufhin lernen die Teilnehmer Abneigung zu erkennen und in der fünften, sich all jenem zuzuwenden, vor dem man normalerweise davonläuft. In der sechsten Sitzung wird geübt, sich von seinen Gedanken zu lösen, da es sich nur um geistige Ereignisse handelt. In der letzten Unterrichtsstunde wird das Augenmerk auf die Balance gerichtet. Für jedes Thema gibt es verschiedene meditative Übungen, sowohl für den gemeinsamen Unterricht als auch für zu Hause.

Wie kombinieren Sie Meditation mit der kognitiven Therapie?

Meine Kollegen John Teasdale, Zindel Segal und ich wandten MBCT als Therapeuten an, bevor es erforscht war. Wir begannen mit Studien und die Erfahrung bewies, dass MBCT wirksam Leuten mit akuter Depression hilft und Rückfälle verhindern kann. Man dachte, es ginge darum, die Ansichten und Gedanken der Betroffenen zu ändern. Doch das funktioniert auch mit Antidepressiva und Medikamenten sehr gut. Der Unterschied ist jedoch enorm: Hört man auf, seine Medikamente zu nehmen, wird man rückfällig, mit einem noch höheren Risiko als vor Beginn der Behandlung. Wenn man jedoch mit der MBCT aufhört, wird man nicht wieder depressiv, was viel besser ist. Keiner wusste, wie der Effekt zustande kommt. Wenn wir in unserem Labor die Daten analysieren, sehen wir, dass der Hauptpunkt der MBCT darin besteht, sich gegenüber den eigenen geistigen und körperlichen Zuständen anders verhalten zu können. Was die Leute in der kognitiven Therapie (CT) lernten, ohne sich dessen bewusst zu sein, war eine neue Art der Reaktion auf negatives Denken. Sie konnten es als bloße Gedanken, als simple, geistige Ereignisse betrachten. Das war unterschwellig immer Teil der CT und wir überlegten die Möglichkeit, Leute gezielt darin zu trainieren, sich anders verhalten zu können – mit größerer Freundlichkeit und Mitgefühl. So kamen wir auf die Achtsamkeit.

Für welche psychischen Erkrankungen wäre der Einsatz von Meditation als Therapie sinnvoll?

Das hängt von vielen Umständen ab, denn Meditation kann man nicht ‚pauschal für alles' einsetzen. Eine Reihe psychischer Störungen hat mit Emotionen zu tun und entsteht aus einer Vielzahl von Ursachen. Sind sie erst einmal vorhanden, werden sie von den gleichen Faktoren aufrechterhalten. Egal, was sie verursacht hat, sie werden gestützt durch geistiges Wiederkäuen, Brüten, sich sorgen, sich in seinen Gedanken verlieren, sich das Schlimmste ausmalen betreffend Vergangenheit und Zukunft. Das ‚Was wäre, wenn?' hat einen ähnlichen Effekt. Unser Körper und unser Geist reagieren darauf auf evolutionär sehr alte Weise mit Davonlaufen. Wir können vor Tigern weglaufen, aber nicht vor unseren eigenen Gedanken. Das Geschehen findet im eigenen Kopf statt, mit den gleichen körperlichen Reaktionen, und setzt die endlose ‚Gedankenpumpe' in Gang. Dieser höchst allgemeine Prozess gilt für viele psychische Erkrankungen, etwa bipolare Störungen, Depression, Schizophrenie, Klaustrophobie und Ähnliches. Deshalb fragt man nicht, wie kamen sie zustande, sondern, wie werden sie aufrechterhalten? Die Forschung dient dazu, herauszufinden, wie der Verlauf sich darstellt, wie die bestimmte Färbung der speziellen Prozesse vonstattengeht und wie Achtsamkeit dazu verhelfen kann, den Punkt zu sehen, an dem sich die Gedankenspirale festzieht.

Wie kann man sich ein derartiges Behandlungssetting vorstellen?

Es ist ein Training von Techniken, keine Therapie. Sie sollen zum Unterricht erscheinen, die CD mit nach Hause nehmen, hören und dabei bleiben – besonders, wenn ihnen danach ist aufzuhören. Viele, die wir fragten, was ihr Rat für Teilnehmer des Folgeprogramms wäre, sagten uns: „Dabei bleiben, gerade dann, wenn du aufgeben willst." In der ersten Sitzung wird geübt, aufmerksam zu sein, indem man zehn Minuten lang eine Rosine isst. Man lernt, alle Sinne dabei wahrzunehmen – Sehen, Riechen, Schmecken, Hören. Erstens wird erfahren, dass der Geist überall beteiligt ist, und zweitens, dass sich die Wahrnehmung ändert, wenn man sich auf sie ausrichtet. Drittens wird realisiert, dass man die meiste Zeit im ‚Autopiloten-Modus' läuft und gar nicht bewusst wahrnimmt, was geschieht. Diese drei Erfahrungen weiten wir dann zu einer Gesamtschau des Körpers aus. Es beginnt also sehr eng mit dem Fokus auf Aufmerksamkeit und öffnet sich dann stufenweise bis zur Aussendung von Freundlichkeit und Mitgefühl in die gesamte Weite des Raumes. Darüber hinaus bringen wir den Leuten noch in ein paar Übungen bei, die Verbindungen zwischen Gedanken und Gefühlen zu sehen. In verschiedenen Szenarien wird gezeigt, wie unterschiedliche Gedanken und die Reaktionen auf sie zu völlig unterschiedlichen Interpretationen einer Situation führen: Ein Freund kommt uns entgegen und beachtet uns nicht, dann kann man denken: „Er war zu abgelenkt und hat mich nicht bemerkt." Und man fühlt nichts. Oder man glaubt: „Der hasst mich" und fühlt sehr viel. Automatische Gedanken können so den Verlauf der nächsten Stunden maßgeblich bestimmen.

 


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 86: „Handbuch Meditation"

Mark Williams


„Wir können vor Tigern weglaufen, aber nicht vor unseren eigenen Gedanken."

 

Wie sehr wird dieser Zugang zur Psyche von den Menschen angenommen?

Viele reagieren sehr offen. Entscheidend ist jedoch das Vorgespräch, denn da können Missverständnisse ausgeräumt werden. Wenn die Vorgeschichte erkennen lässt, dass wir einen extremen Vermeider oder Wiederkäuer vor uns haben, geben wir denen mehr Zeit. Die Erfahrung lehrt, dass diese am ehesten zum Aufgeben neigen, weil für sie schon Begriffe wie ‚Mitgefühl' oder ‚Akzeptieren' ärgerliche Reizworte sind. Wir fragen, wie sie damit umgehen würden, wenn sie der Gedanke an Aufgeben packt, wie sie es schaffen würden durchzuhalten. So werben wir um engagierte Beteiligung, während wir auf die Hürden vorbereiten. Wir vermitteln: Wenn Schwierigkeiten aufkommen, dann lernt man!

 

„Wir vermitteln: Wenn Schwierigkeiten aufkommen, dann lernt man!"

 

Welche Rolle spielt Religion in Ihrer Art von Therapie?

Die Grundlagen des Programms stammen aus der buddhistischen Tradition. Doch was wir entdeckten, ist etwas Universelles, das daher keiner bestimmten Religion zugeordnet werden muss. Wir trainieren Aufmerksamkeit und Mitgefühl anderen und vor allem uns selbst gegenüber. Die Neurowissenschaft zeigt, es verändert das Gehirn. Und selbst in den zehn Minuten Meditation verändert sich das Gehirn. Wenn man das täglich praktiziert, beginnt das Hirn, sich wieder neu zu verknüpfen. Was hat man zu verlieren? Ich selbst komme aus einer christlichen Tradition. Manche Christen sorgen sich, gewisse Elemente seien vielleicht zu buddhistisch für sie. Denen hilft es auch nicht, dass ich Christ bin, weil es eine Reihe unterschiedlicher christlicher Traditionen gibt. Es befremdet sie sogar mehr, wenn ich Anglikaner bin und sie Katholiken sind. Da bestehen viele Vorbehalte. Wenn Redebedarf besteht, spreche ich gern darüber. Sind die Leute religiös, dann hilft die Betonung der Stille, denn die bildet das Herz aller großen Religionen. Sie ermöglicht es, uns jeden Tag mit dem eigenen Innersten zu verbinden, wenn wir ein bisschen Zeit mit uns verbringen. Das genau ist es, was wir hier lernen, und was man damit in der Zukunft macht, kann jeder gern selbst entscheiden.

 

„Wir trainieren Aufmerksamkeit und Mitgefühl anderen und vor allem uns selbst gegenüber."

 

Was lernt der Patient für das Leben? Wie ist das Gelernte in die Praxis umzusetzen?

Es beginnt damit, tägliche Routinetätigkeiten, die man ausführt, ohne dabei zu denken, mit Achtsamkeit zu fokussieren, etwa das Zähneputzen. Wenn also die rechte Hand die Zahnbürste hält, wo ist deine linke Hand? Dasselbe gilt für alle Alltagserledigungen, Hausputz, Tisch decken, Katze streicheln. Wir ermuntern dazu, dabei aufzuwachen, indem man Achtsamkeit hineinbringt. Unser Programm wurde für nicht-klinische Bedingungen entwickelt. Es heißt daher auch ‚Frantic World Programme', mit dem gelernt wird, Frieden in einer aus den Fugen geratenen Welt zu finden. Es appelliert an die Leute, sich jeden Tag von einer grundlegenden Angewohnheit zu befreien, indem sie zum Beispiel mal nicht auf dem gewohnten Platz sitzen, zu Hause oder im Bus. Einfach eine Veränderung herbeiführen und beobachten, was passiert. Als allerwichtigste Technik kristallisierte sich jedoch die ‚dreiminütige Atempause' heraus. Die erste Phase davon hat nichts mit Atmen zu tun, sondern es geht darum, die Wetterlage im eigenen Geist wahrzunehmen. Verlasse den Autopiloten-Modus und schau. Nach einer Minute dann fokussiere den Atem, sammle dich und nach einer weiteren Minute öffne dich für den ganzen Körper. Mit dieser Offenheit für deinen Körper kehre zurück in dein Leben. Die behutsame Wahrnehmung dessen, was im Inneren vor sich geht, ändert dagegen bereits den eigenen Bezug dazu. Wenn man gleich von der Sammlung auf den Atem in die Welt zurückkehrte, brächte das Chaos, der Wechsel wäre zu abrupt. Daher folgt zunächst die Phase der Öffnung. Mit dieser Perspektive kann man den Dingen mit mehr Gefasstheit begegnen und entspannter reagieren. Wenn nach fünf bis zehn Jahren nachgefragt wird, ist es diese Technik der ‚dreiminütigen Atempause', welche die Leute immer noch nutzen. Man kann sie auch in drei Atemzügen anwenden oder auf zehn Minuten ausdehnen – Hauptsache, man behält die Struktur von Beobachten, Sammeln und Öffnen bei.

 

Mark Williams ist Professor für Klinische Psychologie und ‚Principal Research Fellow' der Wellcome Stiftung an der Universität Oxford. Der Psychotherapieforscher und kognitive Verhaltenstherapeut gilt als Co-Autor der achtsamkeitsbasierenden kognitiven Therapie (MBCT) zur Rückfallprävention bei Depressionen.

 

Bilder © Pixabay

Kommentare  
# Michael P. Ammel 2016-03-21 13:41
Tun und Sein verstehen. Sein bedeutet im Augenblick verankert zu sein, nur in diesem Raum kann Veraenderung stattfinden und Veraenderung ist Leben zu dem kognitive Prozesse gehoeren. :-)
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