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Leben

„Ich glaube nur etwas, das schwarz auf weiß geschrieben steht“, sagen viele Menschen. So auch die Mutter von Paul, eines Journalisten. Wenn er mit ihr diskutierte, hatte sie 100 Bedenken. Schrieb er hingegen die gleiche Meinung in einem Artikel, dann glaubte sie ihm. Einige Gedanken zu Schrift, zu Zen und was das mit unserem täglichen Leben zu tun hat.

Die Erfindung der Schrift ist eine der großartigsten Errungenschaften der Menschheit. Sie ermöglicht es uns, Erkenntnisse alter Meister Jahrhunderte später nachzulesen und Wissen in Bibliotheken über Jahrtausende zu speichern.
In der mündlichen Überlieferung aus ferner Vorzeit wurden Informationen umfassender übermittelt. Zusätzliche Faktoren fügten den Worten weitere Aspekte hinzu, zum Beispiel die Körpersprache, die Betonung, die Persönlichkeit des Vortragenden und das, was zwischen den Worten geschieht. Dem gegenüber leben wir heute in einer Schriftkultur: Alles Gedachte wird nur überliefert, wenn es auch niedergeschrieben wird. In gewisser Weise wurde die Schrift zur Materialisierung menschlicher Ideen und Gedanken. Somit ist das Geschriebene etwas, woran man sich halten und auch anhalten kann. Damit sitzen wir schon fast in der Falle: nämlich, indem wir glauben, dass nur das, was geschrieben steht, auch wissenswert ist. Und nur, was formuliert und aufgeschrieben werden kann, die Wirklichkeit ist.

 

Schrift

Worte sind Worte, Erfahrung ist Erfahrung

Manches steht nicht in Büchern, man muss es erfahren. Sie können tonnenweise Bücher über Liebe gelesen haben und dennoch nicht wissen, worum es geht. Kein Wissen über Oxytocinausschüttungen, über die physiologischen Auswirkungen der Schmetterlinge im Bauch oder das Lesen von Rezepten für Aphrodisiaka werden Ihnen einen Hauch von Verständnis vermitteln können, welche Erfahrung Liebe ist. Und so verhält es sich auch mit Zen. Als Studentin in den siebziger Jahren las ich mit Begeisterung die Bücher von D. T. Suzuki. Zen schien mir damals geheimnisvoll und unergründlich. In weiten Teilen habe ich diese Bücher schlichtweg nicht verstanden. Mit der gleichen ‚Unwissenheit’, aber reich an theoretischem Wissen unterrichtete ich später an der Universität im Rahmen der Vorlesung ‚Religion in Japan’ über Zen. Vom heutigen Standpunkt war das ziemlich mutig. Man kann alles rundherum wissen, die Geschichte, die Zen-Meister, die Prinzipien, und doch vollkommen ahnungslos sein. Es heißt, je mehr du über Zen gelesen hast, desto schwerer begreifst du, worum es im Zen geht. So gesehen, hatte ich ein schweres Erbe, als ich mit der Praxis begann. Ich war eine von denen, die auf den Finger schauen, der auf den Mond zeigt, aber nie den Mond selbst wahrnehmen. Alle Schriften und auch alle gesprochenen Worte sind Finger, die auf den Mond zeigen, die Wirklichkeit muss jedoch anders erfahren werden. In den berühmten vier Zeilen, die Bodhidharma (5. Jahrhundert), dem Begründer des Zen in China, zugeschrieben werden, wird Zen so charakterisiert:

 

„Eine besondere Überlieferung außerhalb der Schriften,
unabhängig von Wort und Schriftzeichen:
Unmittelbar des Menschen Herz zeigen –
die (eigene) Natur schauen und Buddha werden.“

 

Im Zen geht es nicht um das Studium von Texten. Im Gegenteil, viele Zen-Meister lehnten Geschriebenes schlichtweg ab. Wie kann dann Zen weitergegeben und gelernt werden?

 

Überlieferung außerhalb der Schriften

Wer sich der Zen-Praxis verschreibt, fängt nicht damit an, ein Buch über Zen zu lesen. Er sucht sich einen Zen-Lehrer oder eine Zen-Lehrerin, die ihn durch ihr Tun und durch Hinweise auf seinem Weg begleiten. Diese Art zu lehren wird seit vielen Generationen von Meister zu Meister und von Lehrer zu Lehrer weitergegeben. Alle Zen-Meister führen sich in einer direkten Linie auf Buddha Shakyamuni zurück. Ein Zen-Meister schult den nächsten und bestimmt nur diejenigen als Dharma-Nachfolger, die die Tradition vollends erfasst haben und weitergeben können, und das schon über 84 Generationen. Sehr wenige Zen-Meister schrieben Bücher, meistens sind ihre mündlichen (!) Lehrreden von einem Schüler mitgeschrieben und später publiziert worden. Manche Zen-Meister lehnten das Schriftliche so sehr ab, dass sie wertvolle Bücher vernichteten. Dies passierte einem der zentralen Texte des Zen, dem Hekiganroku (Bericht von der blauen Felswand). Zen-Meister Engo Kokugon (Yüan-wu K’o-ch’in, 1063-1135) hatte diese Koan-Sammlung, die jeder Rinzai-Zen-Schüler auch heute irgendwann einmal erforscht, zusammengestellt. Sie war in China mit großem Beifall aufgenommen und studiert worden. Engos Schüler Daie Soko (Ta-hui Tsung-kao, 1089-1163) stellte sich vehement gegen die schriftlichen Überlieferungen. Er reiste herum und sammelte alle Exemplare des Hekiganroku ein, derer er habhaft werden konnte, um sie zu vernichten. Er verbrannte auch alle Druckstöcke. Er wollte nicht, dass die Zen-Praktizierenden durch eine Schrift – noch dazu durch eine so dichterisch ansprechende Schrift wie das Hekiganroku – vom wahren Geist des Zen abgelenkt werden.

 

Die Erfahrung der Einheit übersteigt Worte

Der wahre Geist des Zen – was ist das? Er ist mit Worten nicht zu definieren. Auf dem Weg zum wahren Zen versuchen Zen-Praktizierende, vollkommen im jetzigen Moment zu sein, mit ihren Gedanken und ihrem Tun eins zu sein. Diese vollkommene Einheit ist schwer zu erreichen, Sie kennen jedoch möglicherweise aus manchen Momenten im Alltag eine Idee dorthin.
Ist Ihnen auch schon passiert, dass Sie in einer Tätigkeit völlig aufgegangen sind? Dass Sie so sehr in das, was Sie taten, vertieft waren, dass Sie Hunger und Schlaf vergessen haben? Dann verschwimmt die Grenze zwischen dem Ich und dem, was das Ich tut. Ein wunderbares Gefühl der Einheit stellt sich ein. Das kann genauso beim Schachspielen, beim Klettern oder beim Musizieren passieren, aber nicht, wenn Sie über Schachspielen, Klettern oder Musik lesen. Auch nicht, wenn Sie darüber sprechen. Diese wunderbare Erfahrung haben Sie nur, wenn Sie sie mit 100 Prozent, mit allen Fasern Ihres Körpers und Geistes tun. So führen Worte, vor allem geschriebene Worte, von der Erfahrung weg. Sie treiben einen Keil zwischen Sie und die erfahrene Wirklichkeit, sie führen Sie in die Welt der Dualität. Das musste auch ein Zen-Mönch erkennen, der stolz auf seine Gelehrtheit war. In der folgenden Geschichte kommt die Haltung des Zen gegenüber dem Geschriebenen sehr klar zum Ausdruck. Sie ist eine Erinnerung daran, dass Zen uns lehren will, im Leben zu sein und nicht aus zweiter Hand zu leben.


Der chinesische Zen-Mönch Tokusan Senkan (9. Jahrhundert) hatte viele Jahre lang die buddhistischen Schriften studiert. Eines Tages brach er auf, um berühmte Zen-Meister kennenzulernen und mit ihnen über seinen Kommentar des Diamant-Sutra zu diskutieren. Auf seinem Weg kehrte er in einem Teehaus ein, wo eine alte Frau mit Sesam gewürzte Reiskuchen anbot. Dort legte er sein Bündel ab. Die Frau fragte den Mönch, was er denn in seinem Bündel habe. „Den Kommentar zum Diamant-Sutra“, war seine Antwort. „So“, sagte sie, „dann habe ich an Euch eine Frage. Könnt Ihr mir die beantworten, so bekommt Ihr die Reiskuchen von mir umsonst. Wisst Ihr keine Antwort, so müsst Ihr sie anderswo kaufen.“ Tokusan, selbstbewusst, wie er war, erwiderte: „Frag nur zu!“ Daraufhin sagte die Alte: „Im Diamant-Sutra stehen doch die Worte: ‚Den vergangenen Geist kann man nicht fassen, den zukünftigen Geist kann man nicht fassen, den gegenwärtigen Geist kann man nicht fassen.’ Welchen Geist wünscht der Herr zu stärken?“
Tokusan konnte darauf keine Antwort geben. Sein ganzer Gelehrtenstolz brach zusammen. Die Alte empfahl ihm daraufhin, den Zen-Meister Ryutan aufzusuchen. Ryutan empfing ihn und Tokusan blieb bis spät in die Nacht bei ihm. Da es schon spät war, lud ihn Ryutan ein, im Tempel über Nacht zu bleiben. Tokusan ging hinaus, fand sich aber in der stockfinsteren Nacht nicht zurecht. Er ging zurück und bat um Licht. Ryutan nahm eine Wachskerze, entzündete sie und reichte sie Tokusan. Dieser griff danach, doch kaum hatte er die Kerze in der Hand, blies Ryutan sie aus. In diesem Moment wurde in Tokusan alles offen und weit. Überwältigt warf er sich vor dem Meister auf die Knie und berührte mit der Stirn den Boden. Dann packte er seine Sutren-Kommentare, ging vor die Dharma-Halle, nahm eine Fackel und verbrannte sie alle. 


Was ist jetzt besser? Hätten wir Nachfahren die Kommentare des Tokusan lesen sollen? Wären wir dann weiser geworden? Ja, wäre die Antwort, die uns der Zeitgeist geben würde. Nein, ist hingegen die Antwort des Zen.

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Dr. Fleur Sakura Wöss

Dr. Fleur Sakura Wöss

Dr. Fleur Sakura Wöss ist Leiterin des Zen-Zentrums Mishoan in Wien, sowie Coach und Japanologin. Sie schreibt den Blog www.fleurszenblog.com
Kommentare  
# Sandra 2019-01-18 20:11
Schriftliches bildet uns!
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